In seiner ergreifenden Rede für den bei einem Polizeieinsatz getöteten Afroamerikaner George Floyd sagt Pastor und Bürgerrechtler Al Sharpton, dieser Fall stehe sinnbildlich für die jahrhundertelange Unterdrückung von Schwarzen in den USA. Er hält diese „Eulogy“ am 4. Juni 2020 in Minneapolis.
Es ist eine der beeindruckendsten Reden unserer Zeit, zugleich einfühlsam und aufrüttelnd, sanft und unerbittlich, von heute und von morgen. Storytelling auf höchstem Niveau. Und es ist, ganz änhlich wie Martin Luther Kings Rede „I have a dream“, eine Rede mit großer Symbolkraft. Weiße Amerikaner hätten immer schon ihr Knie auf „unseren Nacken“ gedrückt, sagt Sharpton. Nun sei es an der Zeit, dass alle in Georges Namen aufstehen und sagen: „Nehmt eure Knie aus unseren Nacken.“
Nach Sharptons Ansprache hielten die Teilnehmer der Zeremonie genau acht Minuten und 46 Sekunden lang schweigend inne – exakt so lange hatte der weiße Polizist Derek Chauvin sein Knie in Floyds Nacken gedrückt, obwohl Floyd wiederholt klagte, er bekomme keine Luft mehr.
Reale Ereignisse werden in Metaphern verwandelt und bekommen eine tiefere Bedeutung
An dieser Rede für George Floyd lassen sich alle Register des Storytellings studieren. Drei Techniken beherrscht Sharpton geradezu genial. Erstens das Erzählen persönlicher Geschichten, die er immer wieder in den Fluss der Rede einwebt, als wären sie ihm gerade erst eingefallen. Zweitens das Verwandeln realer Ereignisse in Metaphern wie z.B. das Knie im Nacken. Drittens ist es die Verknüpfung der Bibel mit der Realität, die er als Leitmotiv verwendet: „I would like him to open that Bible and I’d like him to read Ecclesiastes 3, to every season there’s a time and a purpose.“
So ist die Rede zugleich höchst persönlich und weist doch weit über das Individuelle hinaus in größere politische und gesellschaftliche Zusammenhänge. Ganz ähnlich wie Martin Luther King es in „I have a dream“ getan hat. Denn genau um diese Verbindung geht es, wenn Menschen zu bewegen sind: die große und die kleine Welt zusammenzubringen.
Hier meine Analyse von Al Sharptons Rede für George Floyd:
1. HEUTE
Sharpton beginnt mit den Worten: „I want us to not sit here and act like we had a funeral on the schedule. George Floyd should not be among the deceased. He did not die of common health conditions. He died of a common American criminal justice malfunction.“
Er springt direkt ins Thema, verliert keine Zeit mit Floskeln. Und er spricht die Menschen direkt an – mit einer Forderung. Damit ist der Ton der Rede festgelegt. Man spürt sofort, das wird alles andere als eine sanfte Trauerrede.
2. MORGEN
Die Hoffnung auf eine neue amerikanische Realität.
„We are going to make America great for everybody for the first time.“
3. INHALT
In einem Satz: die gleichen Rechte für alle Amerikaner.
„What happened to Floyd happens every day in this country, in education, in health services, and in every area of American life, it’s time for us to stand up in George’s name and say get your knee off our necks. That’s the problem no matter who you are.“
4. DAUER
Knapp 30 Minuten.
5. ERFOLGSKONTROLLE
Der Erfolg von Sharptons Rede lässt sich vor allem daran messen, wie sehr er die Menschen bewegt. Bewegt beim Abschied von George Floyd, bewegt aber auch im Sinne von Aktivismus gegen das Rechtssystem. Das lässt sich z.B. im Applaus messen, in der Reichweite des Videos, den Aktionen, die folgen.
Al Sharptons Rede für George Floyd ist kämpferisch. Es ist die Zeit für uns, in Georges Namen aufzustehen und zu sagen: Nehmt eure Knie aus meinem Nacken
6. CALL TO ACTION
Mit dem Call to Action endet die Rede üblicher Weise. Hier ist es anders wegen der besonderen Form der „Eulogy“, die eben keine rein politische Rede ist.
So enthält die Rede in herausragend komponierter Form mehrere kleinere Rede, die zu einer größeren montiert wurden.
Der erste Call to Action findet sich bereits nach ca. 8 Minuten und enthält die zentrale Metapher der Rede, das Knie im Nacken:
„What happened to Floyd happens every day in this country, in education, in health services, and in every area of American life. It’s time for us to stand up in George’s name and say: get your knee off our necks. That’s the problem no matter who you are.“
Die Rede enthält 3 Calls to Action, jeweils nach ca. einem Drittel der Zeit
Der zweite Call to Action folgt nach ca. 18 Minuten. Es ist die Aufforderung, am Marsch nach Washington teilzunehmen, um sich erneut zu dem Traum von Martin Luther King zu bekennen.
„Therefore I’m glad Martin the Third is here today because on August 28, the 57th anniversary of the March on Washington, we’re going back to Washington. That’s where your the father stood in the shadows of the Lincoln Memorial and said, “I have a dream.” Well, we’re going back this August 28 to restore and recommit that dream to stand up because just like at one era, we had to fight slavery. Another era we had to fight Jim Crow. Another era we dealt with voting rights. This is the era to deal with policing and criminal justice. We need to go back to Washington and stand up: Black, White, Latino, Arab in the shadows of Lincoln and tell them ‚This is the time to stop this‘.”
Der letzte Call to Action ist indirekt. Indem Al Sharpton zu George Floyd spricht, spricht er zugleich zu allen anderen, die selbstverständlich weiterkämpfen werden.
„Go on home, George. Get your rest, George. You changed the world, George. We’re going to keep marching, George, we’re going to keep fighting, George, we’re done turning the clock, George, we’re going forward, George. Time out, time out, time out.“
7. PUBLIKUM
Die Rede richtet sich an die Familie und Freunde von George Floyd und an die schwarze Community, doch zugleich spricht Sharpton auch zu allen Amerikanern und zur Welt.
Das macht die Rede besonders stark, dass sie so gekonnt alle abholt, indem sie diese erwähnt: die Länder, etwa Deutschland und Großbritannien, die verschiedenen Ethnien, alle gesellschaftlichen Schichten – alle werden angesprochen
Al Sharptons Rede für George Floyd ist ein Tanz zwischen verschiedenen Redeformen, deren Kraft darin liegt, jeden anzusprechen – und zwar auf menschlicher, spiritueller und politischer Ebene. Wo immer das Publikum einen Berührungspunkt mit dem Drama um George Floyd haben mag, weist die Ansprache den Weg zu Sharptons Aufforderung, sich für Gleichheit und Gerechtigkeit einzusetzen.
8. AKT 1
Sharpton ist sofort beim Thema und hat es nach einer Minuten und dreißig Sekunden mit der Bibel verknüpft:
„To everything there is a time and a purpose and season under the heavens.“
Dann legt er im zweiten Akt los.
9. AKT 2
Der längste Teil seiner Rede. Zugleich politische Bestandsaufnahme und Beschwörung einer gleichberechtigten amerikanischen Gesellschaft.
Sharpton steigt wie ein Reporter mit einer Geschichte ein, dem Mann mit der Bibel, dem er begegnet. Danach wechselt er zwischen dem, was er selbst erlebt hat, dem, was man ihm erzählt hat und dem, was es bedeutet. Immer wieder Nähe, Ferne, Action, Deutung, Begegnungen, Schlussfolgerungen. Immer wieder Anekdoten und Geschichten, die Sharpton weltanschaulich deutet, denn es geht hier nicht um einen Einzelfall, sondern an diesem zeigt sich das eigentliche Thema: die Unterdrückung des schwarzen Teils der Bevölkerung durch die Weißen.
Sharpton beschreibt Bögen zur amerikanischen Verfassung, zu Martin Luther Kings berühmter Rede, zu einem ähnlichen Todesfall wie dem von George Floyd. Er webt ein Netz der Beziehungen und Bedeutungen, das immer dichter wird.
Schließlich wählt er das Bild der Uhren, die wir vorstellen müssen. Denn niemand, so sagt er, scheint zu wissen, wie spät es wirklich ist.
„We need to break down because you all don’t know what time it is. You all are operating like it’s yesterday. And the reason you’re late catching up to what these protests mean is because you didn’t turn your clock forward, talking about what make America great. Great for who and great when? We’re going to make America great for everybody for the first time.“
10. AKT 3
Der dritte Akt leitet über ins Religiöse. Er beginnt damit, dass George Floyd kurz vor seinem Tod nach seiner verstorbenen Mutter gerufen haben soll. Von da an ist die Rede ganz nah bei Floyd.
„Maybe mama said, come one, George.“
Danach leitet Sharpton zu Gott über, zu den Themen Hoffnung, Vertrauen und Glauben. Von dort es geht es in einem furiosen Finale zum Call to Action:
„We didn’t come this far by luck. We didn’t come this far by some fate. We’ve come this far by faith, leaning on the Lord, trusting in his Holy word. He never, he never, he never failed me yet. From the outhouse to the White House, we’ve come a long way. God will, god shall, god will, god always has. He’ll make a way for his children.
Go on home, George. Get your rest, George. You changed the world, George. We’re going to keep marching, George, we’re going to keep fighting, George, we’re done turning the clock, George, we’re going forward, George. Time out, time out, time out!“
Lesen Sie auch meine Analyse von „I have a dream“ von Martin Luther King, von der „Gettysburg-Rede“ von Abraham Lincoln, von der Antrittsrede Nelson Mandelas und von Steve Jobs‘ Stanford-Rede.