Die Harvard-Rede von J.K. Rowling ist ein Lehrstück für Vorträge, die zugleich Humor und Tiefe besitzen. Die persönlich sind und doch die Welt umfassen.
Am 5. Juni 2008 spricht eine sichtlich aufgeregte Harry-Potter-Erfinderin zu der Harvard-Abschlussklasse. Der Titel ist „The fringe benefits of failure, and the importance of imagination“. Es ist eine der bewegendsten Reden dieses Genres Abschlussreden, aber auch weit darüber hinaus Weltklasse.
Das Storytelling vereint mit Empathie eine Reihe von Gegensätzen. Der wichtigste Gegensatz scheint mir die erzählerische Verknüpfung von Ich und Wir. Das gelingt meines Erachtens so brillant, weil Rowling Klischees vermeidet und Storytelling nutzt, um ihre eigene Situation nach dem Studium darzustellen. Wir alle fühlen uns in diese bedrückende Welt hinein, lernen mit ihr aus Fehlern und bekommen ein Gefühl für das Leben, das da draußen auf uns wartet. Meine Analyse folgt der Sparkline, einem Schema, um erfolgreiche Reden oder Vorträge zu analysieren und zu verfassen.
Hier meine Analyse der Harvard-Rede von J.K. Rowling:
1. HEUTE
Der Abschlussklasse zwei Dinge mit auf den Weg zu geben, die das Leben nach dem Studium sie gelehrt hat.
Rowling sagt: „Actually, I have wracked my mind and heart for what I ought to say to you today. I have asked myself what I wish I had known at my own graduation, and what important lessons I have learned in the 21 years that have expired between that day and this.“
Davor leitet Rowling ihren Vortrag humorvoll ein. So bereitet sie den dunklen Teil ihrer Rede vor.
2. MORGEN
Die Hoffnung auf eine Klasse von Absolventen, die die Welt zum Besseren verändern wird.
„And tomorrow, I hope that even if you remember not a single word of mine, you remember those of Seneca, another of those old Romans I met when I fled down the Classics corridor, in retreat from career ladders, in search of ancient wisdom: As is a tale, so is life: not how long it is, but how good it is, is what matters.
I wish you all very good lives.“
3. INHALT
In einem Satz: Die Bedeutung von Fehlern und Einbildungskraft für ein gelungenes Leben.
„On this wonderful day when we are gathered together to celebrate your academic success, I have decided to talk to you about the benefits of failure. And as you stand on the threshold of what is sometimes called ‘real life’, I want to extol the crucial importance of imagination.“
4. DAUER
Ca. 21 Minuten.
5. ERFOLGSKONTROLLE
Der Erfolg von Rowlings Rede lässt sich vor allem daran messen, wie sehr sie die Herzen der Studenten und damit auch deren Lebensweg beeinflussen kann. Das Wirkung der Rede lässt sich z.B. im Lachen und im Applaus messen, in der Reichweite des Harvard-Videos und all der Variationen davon auf Social Media.
Die Harvard-Rede von J.K. Rowling ist aufgebaut wie ein guter Roman – spannend, unterhaltsam, tief
6. CALL TO ACTION
Der Call to Action ist sehr ungewöhnlich formuliert: als ein Relativsatz mit Überlänge, der dreimal von vorne ansetzt.
„If you choose to use your status and influence to raise your voice on behalf of those who have no voice; if you choose to identify not only with the powerful, but with the powerless; if you retain the ability to imagine yourself into the lives of those who do not have your advantages, then it will not only be your proud families who celebrate your existence, but thousands and millions of people whose reality you have helped change. We do not need magic to change the world, we carry all the power we need inside ourselves already: we have the power to imagine better.“
7. PUBLIKUM
Die Harvard-Rede von J.K. Rowling richtet sich an die Absolventen der amerikanischen Elite-Universität. Zugleich ist sie durch das Video eine Botschaft an die Welt, die tiefgründig vom Leben der Autorin erzählt.
8. AKT 1
Im ersten Akt vollzieht sich die freundlich-ironische Annäherung an das Publikum. Man kann sich kaum vorstellen, dass die Leichtigkeit, mit dem sie einsteigt, einer dunkel getönten Darstellung ihrer eigenen Erfahrungen weichen wird. Eine Darstellung, die deutlich macht, über was für einem Abgrund die Harry-Potter-Romane errichtet wurden.
„The first thing I would like to say is ‘thank you.’ Not only has Harvard given me an extraordinary honour, but the weeks of fear and nausea I have endured at the thought of giving this commencement address have made me lose weight. A win-win situation!“
9. AKT 2
Drei Viertel der Redezeit. Rowling erzählt zunächst von ihrem Studium. Dem Wechsel des Fachs, den sie vor ihren Eltern verschwiegen hat. Englische Literatur statt Moderne Sprachen. Sie erzählt von ihrer Leidenschaft und ihrer Untauglichkeit für Berufe, wie ihre Eltern sie für sie gewünscht hätten.
Sie spricht über die Armut und ihre größte Angst: zu scheitern. Dann über das Scheitern selbst.
„Ultimately, we all have to decide for ourselves what constitutes failure, but the world is quite eager to give you a set of criteria if you let it. So I think it fair to say that by any conventional measure, a mere seven years after my graduation day, I had failed on an epic scale. An exceptionally short-lived marriage had imploded, and I was jobless, a lone parent, and as poor as it is possible to be in modern Britain, without being homeless.“
Ich hatte keine Idee, dass etwas, was die Presse Märchenlösung nennen sollte, auf mich warten würde
Schließlich stellt sie die Frage, was sie daraus gelernt hat. Das ist die Antwort:
„So why do I talk about the benefits of failure? Simply because failure meant a stripping away of the inessential. I stopped pretending to myself that I was anything other than what I was, and began to direct all my energy into finishing the only work that mattered to me. Had I really succeeded at anything else, I might never have found the determination to succeed in the one arena I believed I truly belonged. I was set free, because my greatest fear had been realised, and I was still alive, and I still had a daughter whom I adored, and I had an old typewriter and a big idea. And so rock bottom became the solid foundation on which I rebuilt my life.“
Das epische Scheitern als Voraussetzung für ihre Neuerfindung als Romanautorin – und damit auch als Voraussetzung für ihren Erfolg. Gegründet auf einer neuen inneren Sicherheit.
Das zweite Thema ihres Vortrags, die Bedeutung der Einbildungskraft, führt wieder zurück ins Dunkel, in die Zeit bei Amnesty International. Sie erzählt von dem Leid der ehemaligen politischen Gefangenen, dem Bösen, das Menschen einander antun.
Ich glaube, die absichtlich Fantasielosen sehen mehr Monster. Sie haben oft noch mehr Angst.“
„Every day of my working week in my early 20s I was reminded how incredibly fortunate I was, to live in a country with a democratically elected government, where legal representation and a public trial were the rights of everyone.
Every day, I saw more evidence about the evils humankind will inflict on their fellow humans, to gain or maintain power. I began to have nightmares, literal nightmares, about some of the things I saw, heard, and read.“
Dann wechselt J.K. Rowling wie zuvor beim Thema Scheitern zum Guten, das sie beim Amnesty International erleben durfte: der Empathie und der Hilfsbereitschaft.
„Unlike any other creature on this planet, humans can learn and understand, without having experienced. They can think themselves into other people’s places.“
10. AKT 3
Der dritte Akt der Harvard-Rede von J.K. Rowling beginnt mit einem Plutarch-Zitat: „What we achieve inwardly will change outer reality.“
Mit diesem Zitat leitet Rowling über in einen literarisch aufgebauten Call to Action. Zunächst lässt sie die Abschlussklasse in den Spiegel blicken, indem sie fragt:
„But how much more are you, Harvard graduates of 2008, likely to touch other people’s lives? Your intelligence, your capacity for hard work, the education you have earned and received, give you unique status, and unique responsibilities. Even your nationality sets you apart. The great majority of you belong to the world’s only remaining superpower. The way you vote, the way you live, the way you protest, the pressure you bring to bear on your government, has an impact way beyond your borders. That is your privilege, and your burden.“
Hier schließt der bereits zitierte Call to Action an, der nach einer Pirouette zum Thema Freundschaft mit einem Zitat von Seneca endet:
„As is a tale, so is life: not how long it is, but how good it is, is what matters.“
Gutes Leben in diesem Sinne wünscht sie schließlich der Abschlussklasse von 2008 zum Abschied.
Lesen Sie auch meine Analyse von „I have a dream“ von Martin Luther King, von der „Gettysburg-Rede“ von Abraham Lincoln, von der Antrittsrede Nelson Mandelas und von Steve Jobs‘ Stanford-Rede.
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