Robert Habecks BDI-Rede im Juni 2022 bewegt, indem sie den Bogen vom Persönlichen zu dem schlägt, was in Habecks Worten „Phase ist in der Welt“. Die Rede langweilt nicht mit immer gleichen Fakten oder Lamentos, sondern zieht das Publikum mit herausragendem Storytelling in eine Welt, in der Politik, Ökonomie und das Private eng verwoben sind. So zeigt der Vizekanzler und Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz den Vertretern der Industrie, was angesichts der Bedrohung durch Russland der Kurs sein sollte.

Was diesen Vortrag aus Storytelling-Perspektive spannend macht, ist Habecks authentische Art. Denn so überzeugt er. So rüttelt er auf. So unterscheidet Habeck sich von den meisten anderen Politikern – nicht nur den deutschen.

Habeck hat ein Manuskript, er verliert ein wenig die Zeit aus dem Blick, wird von Leidenschaft davongetragen und schließlich von der Moderatorin ermahnt. Er stolpert zum Ende hin ein wenig. Behält trotz des ernsten Themas seinen Humor. Er erklärt komplexe Sachverhalte wie kein Zweiter. Und er zeigt, was es bedeutet, Werten zu folgen statt allein der Spur des Geldes.

Und so möchte ich persönlich anfangen und daran erinnern, was gerade in der Welt passiert

Robert Habecks BDI-Rede hält sich nur bedingt an die Regeln für gelungene Vorträge. Sie sprengt auf glückliche Art den Rahmen, wie wohl jede großartige Rede. Eine zentrale Regel für den Einstieg nennt der Vizekanzler gleich zu Beginn: Erzähle etwas Persönliches, um deine Zuhörer in deinen Vortrag zu ziehen!

Liest Habeck ab? Nein. Erstaunlicher Weise scheint er gerade beim persönlichen Intro hin und wieder aufs Manuskript zu sehen, um aber die meiste Zeit frei zu sprechen. Er gibt uns Zeit, seinen Gedanken zu folgen und doch vermittelt er Dringlichkeit angesichts der Gefahr, dass Putin uns vollständig den Gashahn abdreht, bevor wir ausreichend alternative Quellen gefunden und in unser Versorgungssystem eingebunden haben.

Zum Ende malt Robert Habecks BDI-Rede zumindest eine positive Skizze der Zukunft in Bezug auf die Dekarbonisierung Deutschlands und eine neue Unabhängigkeit von „Systemrivalen“ wie Russland oder China. Ziele, denen wir vor dem Hintergrund des Schreckszenarios mit Riesenschritten entgegeneilen.

Man hört die Geschichten und versteht auf einmal wieder, was Phase ist in Europa

Mir geht es nicht darum, Robert Habecks Rede inhaltlich zu bewerten. Aber: Vom Aufbau und der Haltung ist sie ohne Zweifel herausragend. Und ich bin der Meinung, wir brauchen mehr Politiker, die so deutlich und echt sprechen und handeln. Die Rede dauert ca. 23 Minuten. Sie ist ein Lehrstück von Leadership Storytelling in schweren Zeiten.

Hier meine Analyse. Dabei folge ich der Sparkline, einem Schema, um erfolgreiche Reden oder Vorträge zu analysieren und zu verfassen.

Hier meine Analyse von Robert Habecks BDI-Rede:

1. HEUTE

Nicht nur die Ukraine wird angegriffen, die reduzierten russischen Gaslieferungen sind auch ein Angriff aus uns. Ein ökonomischer Angriff, der versucht, die Gesellschaft zu spalten und rechtem Populismus Raum zu geben.

2. MORGEN

Wir – Wirtschaft und Politik – tun alles, um Deutschland so zu verwandeln, dass wir beim Thema Energie nicht mehr von Russland erpressbar sind. Wir bleiben eine freiheitlich-demokratische, offene Gesellschaft. Wir treffen, trotz Ungleichzeitigkeit und komplexer Lage, die bestmöglichen Entscheidungen.

3. INHALT

In einem Satz: Robert Habecks BDI-Rede ist ein Appell an die Vertreter der Industrie, gemeinsam mit der Regierung einem Kurs zu folgen, der über alles die Freiheit als zentralen Wert gegen den Angriff von Putin verteidigt.

„Deswegen hat er diesen Krieg angefangen, weil Diktatoren die Freiheit fürchten. Und deswegen darf er diesen Krieg nicht erfolgreich abschließen, weil das bedeuten würde, dass Diktatoren die Freiheit immer wieder erfolgreich angreifen können.“

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4. DAUER

Robert Habecks BDI-Rede dauert 23 Minuten.

5. ERFOLGSKONTROLLE

Dass Deutschland dieser Wandel gelingt. Gesellschaftlich und in Bezug auf die Energieversorgung:

Gesellschaftlich: „Es geht nicht nur um die Solidarität mit der Ukraine, es geht eben auch darum, dass wir unser Verständnis von politischer Kultur, einer offenen Gesellschaft, einer freien Marktwirtschaft verteidigen.“

In Bezug auf die Energieversorgung: „Es ist ein ehrgeiziger Plan und es gibt keine Garantie, dass er aufgeht. Es gibt nur einen hohen Druck dafür zu arbeiten, dass er aufgeht. Wenn er aufgeht, sind die Speicher im Winter voll.“

Es geht darum, dass wir unser Verständnis einer offenen Gesellschaft und einer freien Marktwirtschaft verteidigen

6. CALL TO ACTION

Die Rede ist ein einziger Call to Action. Immer wieder ermahnt Habeck sein Publikum zu handeln. Die Freiheit zu verteidigen. Wertebasiert zu handeln. Keinem Populismus zu folgen. Gemeinsam mit der Regierung den besten Kurs immer wieder zu verhandeln. Teamwork. Agilität statt Bürokratie. Blockaden lösen. Neue Import- und Exportmärkte erschließen. Unseren Einfluss in der Welt nutzen und, so die Schlussworte: „zugleich etwas unabhängiger werden von den bösen Absichten von Diktatoren in der Welt“.

7. PUBLIKUM

Die Mitglieder des BDI sowie potenziell die ganze Welt via Videoaufzeichnung.

8. AKT 1

Robert Habecks BDI-Rede nutzt den ersten Akt, um ein Wir zu etablieren. Wir, die für Freiheit eintreten und für Solidarität mit der Ukraine. Es ist meines Erachtens der stärkste Teil seiner Rede. Er schafft eine Basis für alle, der sich niemand entziehen kann.

Sehen wir etwas genauer hin. Die Rede beginnt, indem Habeck die Anmoderation aufnimmt. Er sagt:

„Vielen Dank für die charmante Ankündigung. Wenn ich an Braunkohle denke, dann denke ich an Habeck. Das habe ich mir auch anders vorgestellt. Aber ich komme darauf zurück.“

Sofort ist klar, Habeck sucht den Dialog. Er ist schlagfertig. Und er ist ehrlich.

Dann zieht der Vizekanzler sein Manuskript aus der Jackentasche und erklärt, warum er gern anders als vielleicht erwartet beginnen würde:

„Sie hatten jetzt ein dreitägige Konferenz in einem lichtdurchfluteten Saal. Und wenn ich Parteitage hatte, dann war man nach drei Tagen durch und das Einzige, was einen noch manchmal wieder wach oder wenigstens aufmerksam gemacht hat, war das Persönliche. Nicht noch einmal abspulen, was Sie in Reden in verschiedenen Variationen vielleicht schon 15.000 Mal gehört haben. Und so möchte ich, als letzter Gast hier auf Ihrer Tagung, persönlich anfangen, um zu erinnern, was gerade passiert und vor welchem Hintergrund Ihre Tagung, der Tag der Industrie, stattfindet. Vor welchem Hintergrund wir aber auch die politischen Debatten führen.“

Dass Putin einen Krieg vom Zaun gebrochen hat, weil er die individuelle Freiheit von Menschen nicht ertragen kann

Das ist die Hinleitung. Nun die Themensetzung und das große Bild:

„Manchmal habe ich Zeit am Sonntag und gehe joggen und es gibt einen Podcast, den ich dann meistens höre. Der heißt Ucraine Cast von der BBC. Ich würde sagen, ein journalistisches Meisterwerk mit verschiedenen Geschichten aus der Ukraine, aber auch russischen Geschichten. Und diese Geschichten sind Geschichten aus dem Krieg.“

Jetzt nimmt Habeck sich etwas zurück, ersetzt das Ich durch ein Man, das natürlich ihn meint, doch mehr von außen gesehen.

„Man läuft durch den Wald. Hätte man nicht Kopfhörer im Ohr, würde man die Vögel singen hören. Man sieht das gebrochene Licht. Was ich als einen schönen, vielleicht einen erhabenen Moment begreifen würde. Man hört dann die Geschichten, die quasi gleichzeitig passieren.“

Dann erzählt er die Geschichten. Nur die letzte hat ein positives Ende. Garantiert kein Zufall, denn so leitet sie in einen Modus über, der Hoffnung anstelle von Verzweiflung setzt. Nun wählt Habeck eine sehr eigenes Wort: Phase.

„Man hört die Geschichten und versteht auf einmal wieder, was eigentlich Phase gerade in Europa ist. Und was gerade Phase in unserer Welt ist.“

Das, was Phase ist, ist das Passepartout für alles, was Habeck erwartet. Wer hier Nein sagt, der wird zu allem Nein sagen. Das, was Phase ist, relativiert Habeck – er sagt: Das ist meine Sicht. Noch sind wir nah bei seinem Joggen und dem Podcast und der Erkenntnis, die er daraus gewinnt.

„Dass Putin einen Krieg vom Zaun gebrochen hat, aus meiner Sicht, weil er die individuelle Freiheit von Menschen nicht ertragen kann. Und weil die Ukraine in ihrem Bestreben nach Freiheit eine Bedrohung für ein diktatorisches Regime geworden ist. Sie darf nicht erfolgreich sein.

Das ist der Hintergrund all unserer Debatten

Die Freiheit, die offene Gesellschaft, das individuelle Glücksstreben von Menschen darf für Diktatoren nicht erfolgreich sein. Deswegen hat er diesen Krieg angefangen, weil Diktatoren die Freiheit fürchten.“

Nun das entscheidende Fazit: Wir kämpfen für etwas deutlich Größeres und Bedeutenderes als unser wirtschaftliches Wohlergehen, die Freiheit.

„Und deswegen darf er diesen Krieg nicht erfolgreich abschließen, weil das bedeuten würde, dass Diktatoren die Freiheit immer wieder erfolgreich angreifen können. Das ist der Hintergrund aller unserer Debatten.“

Der erste Akt dauert 4 Minuten.

9. AKT 2

In diesem Akt geht es typischer Weise ein wenig hin und her zwischen Heute und Morgen. Doch zuvor braucht es eine Überleitung: Dass Putin Gaslieferungen kürzt oder vielleicht sogar gänzlich kappt. Jetzt sind wir beim Thema, das die Industrie, seinen Zielgruppe bei dieser Rede, ganz direkt betrifft (und nicht nur die).

„Was wir gesehen haben in der letzten Woche ist noch einmal eine andere Dimension. Die Redaktion der Gaslieferungen durch NorthStream 1 ist eben auch ein ökonomischer Angriff auf uns.“

Dann erklärt er die Logik dieses Angriffs:

„Wie funktioniert dieser Angriff? Das Muster ist immer das gleiche: Die Menge an Gas zu reduzieren, die Preise nach oben zu drücken, um in Europa und Deutschland eine Debatte auszulösen über Not und über Angst, die unser Land trifft … Durch die materielle Not, die hohe Inflation, durch die hohen Energiepreise haben Menschen Angst …

Dann geht es nicht mehr darum, den wohldosierten Streit über die richtige Antwort zu führen, dann geht es darum, die Frage zu stellen, ziehen wir uns zurück, soll Putin gewinnen? Dann macht man den Raum auf für Populismus. Und das ist eine Strategie und diese Strategie darf nicht erfolgreich sein. Es geht nicht nur um die Solidarität mit der Ukraine, es geht eben auch darum, dass wir unser Verständnis von politischer Kultur, einer offenen Gesellschaft, einer freien Marktwirtschaft verteidigen.“

Durch die materielle Not haben die Menschen Angst

Habeck spricht vom Sommer und wendet den Blick sorgenvoll zum Winter. Er spricht von Szenarien: halb volle Gastanks oder volle Gastanks. Er spricht vom Plan und der Realität. Von vollen Auftragsbüchern und der gleichzeitigen Angst vor Rezession. Immer wechselt er die Perspektive zwischen Politik und Wirtschaft und zeigt so, was zu klären ist. Das Wort, das er dafür am häufigsten verwendet, ist Debatte.

Schließlich blickt Habeck fast ausschließlich in die Zukunft: die nächsten Schritte, die immer auch etwas Widersprüchliches in sich tragen können. Habeck nennt es Ungleichzeitigkeit. Er spricht über die Nutzung von Braunkohle und das große Ziel der Dekarbonisierung, wie er Dinge tun muss, die er sich anders vorgestellt hat, die nur vor dem Hintergrund des Krieges und der Verteidigung der Freiheit und dem schnellstmöglichen Erreichen der Unabhängigkeit von Russlands Gas Sinn machen.

Er spricht mit immer größerer Leidenschaft, bis er ermahnt wird, zum Ende zu kommen.

Der zweite Akt dauert 15 Minuten. Üblicherweise ist dieser Teil der längste und wichtigste.

10. AKT 3

Der dritte Akt soll typischerweise den Call to Action enthalten. Habeck nutzt Aufforderungen immer wieder während seiner Ansprache.

Das – leider – arg geraffte Ende enthält noch einmal konkret das, was zu tun ist: Wie wir mit der Inflation umgehen. Wie wir mehr Energie auf den Markt bringen – diversifizieren und „mit einer affenartigen Geschwindigkeit die Gesetze durch die Parlamente drücken, um den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen“. Wie wir ebendiese Verwaltungsprozesse beschleunigen und entbürokratisieren.

Dass wir die Handelsabkommen nutzen, um unsere Werte in der Welt zu befördern

Während er diese Punkte aufzählt, faltet Habeck schon seinen Manuskriptzettel zusammen. Der letzte und entscheidende Punkt bringt ihn wieder zum Anfang und zeigt noch einmal das große Bild, die wahre Größe der Aufgabe, die nicht nur vor der Industrie liegt.

„Und damit bin ich wieder am Anfang. Dass, was wir erleben, ist eine Systemrivalität. Nicht in Bezug auf Russland, aber in Bezug auf China hieß es immer: Partner, Konkurrent, Systemrivale. Wir müssen ehrlich sein: Die Partnerschaft ist arg strapaziert. Natürlich sind das große Absatzmärkte und große Rohstofflieferantenmärkte. Aber wir wären blind und würden nicht erkennen, was die geopolitische Situation ist, wenn wir nicht vor allem die Systemrivalität anerkennen würden.

Das heißt: Wir brauchen neue Import- und neue Exportmärkte. Wir müssen an der Idee von Handel und Globalisierung festhalten, wir müssen sie aber auch strategisch nutzen. Strategisch nutzen heißt, dass sie nicht gegen unsere Werte arbeitet, sondern dass wir die Handelsabkommen nutzen, um unsere Werte in der Welt zumindest zu befördern. Durchzusetzen ist vielleicht ein hehrer Anspruch.

Gleichzeitig allerdings uns eingestehen, politisch wie als Unternehmen, dass wir die Diversifizierung – also das breite Aufstellen von Rohstoffketten, von Energieabhängigkeiten usw. zur Maßgabe machen. So kann daraus ein Schuh werden, dass wir unseren Einfluss in der Welt nutzen. Gleichzeitig ein bisschen unabhängiger werden von den bösen Absichten von Diktatoren in der Welt.“

Der dritte Akt dauert vier Minuten.

Lesen Sie auch meine Analyse von „I have a dream“ von Martin Luther King, von Nelson Mandelas Antrittsrede und von Steve Jobs‘ Stanford-Rede.

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