Wie verwandle ich ein Unternehmen in eine Storytelling Corporation? Und welche Vorteile bringt mir das für mein Unternehmen? Das fragte ich Dr. Martin Beyer, Coporate Storyteller, Creative Writer und Autor des vor kurzem erschienen Buches StoryThinking. Durch die Kraft des Erzählens Mitarbeiter und Kunden gewinnen.

Sie erzählen in Ihrem Buch – ein Sachbuch – eine Fabel. Warum?

Ich fand die Idee sehr reizvoll, nicht nur ein theoretisches Buch über das Erzählen zu schreiben, sondern das Buch auch eine Geschichte erzählen zu lassen, damit die Inhalte anschaulicher werden. Daher endet jedes Kapitel mit jeweils einem Teil der Kurzgeschichte Die Firma der Tiere. Ich stehe damit aber auch in einer schönen Tradition: Stephen Denning, einer der Pioniere des modernen Storytellings, hat in seinem Buch Squirrel Inc. – A Fable of Leadership Through Storytelling seine Inhalte auch in einer Tierfabel verpackt. Dieses Buch hat mich sehr geprägt.

Ich finde bei Ihnen zwei Begriffe, die ich ohne Zuhilfenahme Ihres Buches nicht verstanden hätte: StoryThinking und Storyversum. Was ist StoryThinking?

Unter StoryThinking verstehe ich die generelle Bereitschaft und Aufmerksamkeit, das Erzählen als wertvolles Element der Entwicklung von Unternehmen und Organisationen zu verstehen. Heute sagt man ja Mindset dazu: Ich denke in und arbeite mit Zahlen, aber genauso mit Worten. Dieses Thinking in Stories umfasst alle möglichen Geschichten im Unternehmen: etwa die Gründungsgeschichte (könnte ich die noch besser erzählen?), die Geschichten der Mitarbeiter (über die sich auch sehr gut erfahren lässt, wie es mit der Unternehmenskultur wirklich bestellt ist) und die Geschichten der Kunden (auf welche Reise gehen diese mit Produkten oder Dienstleistungen?).

Die Emotionen der Mitarbeiter werden erfahrbar gemacht

Und jetzt zum nächsten Begriff: Storyversum. Was bedeutet das?

Storyversum ist mein konkreter Ansatz, um ein StoryThinking in einem Unternehmen nachhaltig zu etablieren, damit es nicht nur ein Gedankenspiel bleibt. Zunächst wird eine kleine Gruppe damit betraut, das Unternehmen als Erzählwelt zu entwerfen, einzelne Kontinente werden bearbeitet, der Unternehmensmythos und auch interne Konflikte aufgedeckt. Aus diesem Prozess lassen sich in der Regel sogleich konkrete Maßnahmen ableiten: Kommunikationswege werden verändert, der Mythos ganz anders erzählt, Mitarbeiter aktiver in die Entwicklung integriert … Das verdrängt andere Formen der Unternehmensentwicklung nicht, sondern ergänzt diese, da sich über das Erzählen ein bestimmter Wissens- und Erfahrungsspeicher nutzen lässt, der ansonsten unberührt bleibt.

Das Storyversum sieht so aus:

Storyversum-Grafik. Copyright: Verlag Franz Vahlen 2018

 

Wie lässt sich der Nutzen messen?

Das Vorteilhafte an StoryThinking und der Storyversum-Methode sehe ich gerade darin, dass das „Unmessbare“ erfahrbar gemacht wird, also die Emotionen der Mitarbeiter, ihr Erfahrungswissen, Faktoren wie Identität und Vertrauen. Solche Faktoren lassen sich aber indirekt auch messen, indem man zum Beispiel merkt, das die Fluktuation von Mitarbeitern abnimmt, nachdem man angefangen hat, mit Geschichten zu arbeiten. Und der Umsatz des Unternehmens darf sich ruhig auch steigern – zum Beispiel, wenn der Unternehmensmythos packender erzählt wird und sich mehr Menschen mit der Unternehmensmarke identifizieren.

Die Storyversum-Methode ist unkompliziert und schnell integrierbar

Welchen Unternehmen empfehlen Sie, mit StoryThinking zu arbeiten? Und welchen nicht?

Ich wüsste nicht, wem ich das nicht empfehlen sollte. Es eignet sich sowohl für Unternehmen, die etwa an sehr komplexen und schwer zu vermittelnden Verfahren oder Produkten arbeiten als auch für den Einzelhandel in den Städten, also der kleinere Laden, der nicht mehr über Preise den Unterschied machen kann, sondern über eine bestimmte Einkaufserfahrung, über Geschichten, die er erzählt und die er dem Kunden ermöglicht. Ich denke auch, dass etwa Sportvereine von diesem Verfahren profitieren könnten, indem sie strategische Räume schaffen, in denen Mythen entstehen können.

Wie hoch ist denn der Aufwand, eine StoryThinking Corporation zu werden? Wie lange dauert das wohl?

Also die Storyversum-Methode ist in Anlehnung an agile Verfahren sehr unkompliziert und schnell integrierbar. Zwei Workshoptage reichen meistens schon, um einen ersten Bauplan des eigenen Storyversums vorliegen zu haben. Die Frage ist dann immer, wie nachhaltig das implementiert wird nach diesem ersten Aufschlag. Ich schlage vor, ein dynamisches Weltenbuch anzulegen, das die Erzählwelt einerseits dokumentiert, andererseits evaluiert, welche Maßnahmen schon gelaufen sind und wie erfolgreich sie waren. So etwas vor allem in größeren Firmen anzuregen, erfordert sicherlich Kommunikationsaufwand, denn es sollen ja möglichst viele an dem Prozess partizipieren.

StoryThinking

Was ändert sich alles?

Hoffentlich wird die Unternehmenskultur eine offenere. Man begegnet sich weniger in Masken, kennt den anderen besser. Und man weiß besser, wer man ist und wie man geworden ist – das ist meines Erachtens sehr viel wert, denn das berühmte „Warum“ geht Unternehmen in den Mühen der Ebene ja schnell einmal verloren.

Der Wunsch nach neuen Narrativen ist groß, etwa in der Politik

Gibt es das absolute Vorbildunternehmen?

Wer ganz auf das Erzählen und den eigenen Mythos setzt, ist etwa FREITAG Taschen aus der Schweiz. Sie sind, zumindest was ein Storytelling nach außen anbetrifft, für mich vorbildlich. Ihre Webseite etwa bildet das Storyversum beinahe 1:1 ab. Andere Unternehmen wie Microsoft sind auch schon sehr weit, StoryThinking strukturell zu verankern, durch bestimmte Posten etwa, die genau diese narrativen Prozesse im Blick behalten und lenken. Auf dem Weg zur StoryThinking Corporation …

Gibt es etwas, das Ihnen bei der Anwendung von StoryThinking besonders Freude bereitet?

Es bereitet mir eine kindliche Freude, das Erzählen auch in unternehmerischen Prozessen stark zu machen und aus dem Reich der Kindheit oder der Unterhaltung zu befreien. Gleichzeitig nervt es manchmal, dass es hier noch immer einige Vorurteile gibt. Der Wunsch nach neuen Narrativen ist groß, etwa in der Politik, um unsere europäische Identität zu festigen – aber dann müsste man eben viel stärker Storytelling-Techniken ausprobieren und einsetzen. Das trauen sich manche Akteure offenbar noch nicht.

Haben Sie schon eine Idee, in welche Richtung sich StoryThinking entwickeln wird?

Ich würde mich sehr freuen, wenn ein Thinking in Stories, nicht nur durch mein Buch, etwa auch durch Ihres, immer stärker zum Tragen kommt, und das in den unterschiedlichsten Bereichen. Dies aber in einem demokratischen und „faktischen“ Sinn: Es geht mir darum, Zahl und Wort in Einklang zu bringen, damit das Faktische im Postfaktischen Zeitalter wieder gestärkt wird.