Greta Thunbergs EU-Rede im April 2019 hält sich nicht an die Regeln für gelungene Vorträge. Thunberg folgt ihren eigenen Regeln. Alles steht ein wenig auf dem Kopf. Und verfehlt trotzdem oder wohl eher gerade deswegen seine aufrüttelnde Wirkung nicht.

Ich bin sicher, ihr Change-Vortrag vor dem Europäischen Parlament wird Eingang in die Geschichtsbücher finden. Er ist vor allem eins:  authentisch. Sie stottert, sie weint, sie verwirbelt Pointen, ihre Sätze werden zu Beschwörungsformeln, zu gebändigten Hilfeschreien, immer wieder ruft sie dazu auf, endlich zu handeln. Sie liest die meiste Zeit ab, klammert sich an ihr Manuskript.

Ihre Sprache ist klar und die vielen Aufforderungen vermitteln Dringlichkeit. Greta Thunbergs EU-Rede verwendet Metaphern, ihre bevorzugte Metapher ist die vom brennenden oder einstürzenden Haus. Alternativ: Das Haus, das auf Sand gebaut ist.

Greta Thunbergs EU-Rede enthält nicht eine einzige Geschichte. Und sie enthält kein positives Bild der Zukunft. Die gerettete Welt malt sie nicht aus. Thunberg malt stattdessen ein Schreckszenario an die Wand. Um 2030 herum, sagt sie, erreichen wir einen point of no return. Wir haben keine Zeit mehr. Auch das ungewöhnlich, wenn man bedenkt wie stark gerade positive Bilder der Zukunft wirken, etwas bei Martin Luther King in seiner I have a Dream-Rede. Thunbergs Tenor ist eher: I have a nightmare.

I want you to panic! Thunberg polarisiert, sie klagt ihr Publikum an

Mir geht es nicht darum, Greta Thunbergs Rede zu bewerten. Sie ist ohne Zweifel berührend. Eine 16-Jährige, die ausspricht, was viele nicht hören wollen. Die ihr Publikum der Untätigkeit anklagt. Der Zuwiderhandlung gegen das, was sie sagen. Die nicht versteht, dass es Parteien gibt, die verhindern wollen, dass sie vor dem EU-Parlament spricht, sie, ein Schulmädchen.

Thunberg polarisiert. Von Anfang an zieht sie eine Grenze – ich und ihr, uns trennen Welt. Sie sucht gar nicht erst nach Gemeinsamkeiten. Die einzige Gemeinsamkeit scheint die Heimat, die Erde, die in Gefahr ist.

Allein an den Gegenreaktionen zeigt sich, wie wirkmächtig ihre Auftritte sind. Und an der Hilflosigkeit der EU-Politiker. Deren Klatschen wirkt wie verzweifeltes Über-den-Kopf-Streicheln. Nun echauffiere dich doch nicht so, Greta. Wir machen das schon.

Thunbergs Rede dauert ca. 12 Minuten. Sie ist ein Lehrstück der besonderen Art zugleich nüchternen und emotionalen  Storytellings. Einer Change-Rede, die von einer ungewissen Zukunft erzählt.

Hier meine Analyse. Dabei folge ich der Sparkline, einem Schema, um erfolgreiche Reden oder Vorträge zu analysieren und zu verfassen.

Hier meine Analyse von Greta Thunbergs EU-Rede:

1. HEUTE

Das Haus brennt und es fällt auseinander, doch niemand tut etwas. Die Klimakrise wird ignoriert.

2. MORGEN

Die Politiker – und alle anderen Verantwortlichen – tun endlich alles, um die Klimakrise abzuwehren.

3. INHALT

In einem Satz: Thunbergs EU-Rede ist ein Appell an die Politiker aufzuwachen und sich der Klimakrise zu stellen.

„You need to listen to us who cannot vote. You need to vote for us. For your children and grandchildren … Please wake up!“

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4. DAUER

12 Minuten.

5. ERFOLGSKONTROLLE

Dass die EU-Politiker augenblicklich damit beginnen, etwas zu tun, um die Klimakatastrophe, die Thunberg an die Wand malt, abzuwenden. Die von ihr beschworene Panik.

Die Magie der If-Sätze: Thunbergs EU-Rede nutzt Wiederholungen am Satzanfang wie Beschwörungsformeln

6. CALL TO ACTION

Die Rede ist voller Calls to Action. Immer wieder ermahnt Thunberg ihr Publikum zu handeln.

Ungewöhnlicher Einstieg: Keine Hinführung zum Thema, stattdessen ein CTA gleich in den ersten Sätzen. „My name is Greta Thunberg. I am 16 years old. I come from Sweden. And I want you to panic. I want you to act as if the house was on fire.“

Das Ende schließt den Bogen zum Anfang. „I beg you, please do not fail on this.“

7. PUBLIKUM

Das EU-Parlament sowie die ganze Welt via Video und TV.

8. AKT 1

Greta nimmt sich viel Zeit, um die Ausgangssituation zu schildern. Sie erklärt, wie Wissenschaftler auf die Entwicklung der Welt im Zeichen der klimatischen Entwicklung sehen. Dann erwähnt sie das Jahr 2030 als einen Punkt in der Entwicklung, der Umkehren unmöglich macht. Sie wendet sich schließlich dem sechsten massenhaften Aussterben der Tierarten zu, das aktuell stattfindet. Greta bricht in Tränen aus, als sie diesen Part von ihrem Manuskript abliest.

Der erste Akt wird häufig genutzt, ein Wir zu etablieren. Nicht von Greta. Sie benennt den Status Quo und zieht eine Linie: Ihr habt es vermasselt und ich sowie meine Generation, wir werden diejenigen sein, die das auszubaden haben. Nicht nur wir, die gesamte Natur.

Der erste Akt ist sehr lang, fast 6 Minuten.

9. AKT 2

In diesem Akt geht es typischer Weise ein wenig hin und her zwischen Heute und Morgen. Thunberg verwendet eine Metapher, die sie häufig wiederholt, eingebunden in eine Wenn-Dann-Konstruktion.

Der zweite Akt beginnt: „If our house was falling apart our leaders wouldn’t go on like they do today.“ Sie wechselt in die direkte Ansprache: „You would change almost every part of your behaviour.“ Dann der nächste Punkt. Immer wieder dieses „If our house was falling apart our leaders …“

Der stärkste Satz, frei von Zynismus und Bitterkeit, doch direkt ins Herz der Europa-Politiker: „If our house was falling apart you wouldn’t hold three emergency Brexit summits and no emergency summit regarding the breakdown of the climate and the environment.“

Sie blickt befremdet auf das Verhalten, kann es einfach nicht fassen.

Der zweite Akt ist erstaunlich kurz: 2:30 Minuten. Üblicherweise ist dieser Teil der längste und wichtigste.

10. AKT 3

Der dritte Akt beginnt mit dem Call to Action: „Well, our house is falling apart and we are rapidly running out of time. Everyone and everything needs to change. “

Thunberg mahnt die Anwesenden. „I ask you to please wake up and make the changes required possible. To do your best is no longer good enough. We must all do the seemingly impossible. And it’s okay if you refuse to listen to me. I am after all just a 16 year old schoolgirl from Sweden. But you cannot ignore the scientists or the science, nor the millions of school-striking children that are school-striking for the right to their future. I beg you, please do not fail on this.“

Lesen Sie auch meine Analyse von „I have a dream“ von Martin Luther King, von Nelson Mandelas Antrittsrede und von Steve Jobs‘ Stanford-Rede.

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