Eins steht fest: Apples Mother Nature hat viel Aufmerksamkeit bekommen, ob man den Kurzfilm nun genial findet oder peinlich. Ich selbst war einige Tage hin- und hergerissen: Mutter Erde erscheint in einem Meeting, um den Status des CO2-Fußabdrucks zu checken. Ehrlich? Was macht man mit so einem Video, das mit seinem Storytelling alle Grenzen von Unternehmenskommunikation zum Thema Nachhaltigkeit sprengt?

Man schaut es sich genauer an. Und versucht, daraus zu lernen. Ich fand drei Lektionen in Bezug auf das Storytelling. Sei mutig! Radikal! Authentisch!

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Apples Mother Nature, Lektion 1: Sei mutig!

Eine großartige Definition für Storytelling kommt von dem US-Psychologen Jerome Bruner. Er sagt: Storytelling beginnt da, wo die Skripte aufhören. Die Skripte beschreiben, was üblich und erwartbar ist in einem kulturellen / gesellschaftlichen Rahmen; die Storys dagegen beschreiben die Abweichung. Etwas läuft anders.

Diese Basis scheinen gerade im Corporate Storytelling viele vergessen zu haben. Es gibt immer mehr vom Gleichen. Skript statt Story, Langeweile statt Aufmerksamkeit.

Was wäre das Skript in diesem Kontext? Der erwartete Report zur Nachhaltigkeit im Rahmen der Keynote etwa. Oder generell: der übliche Nachhaltigkeitsbericht als Lektüre.

Nun aber ein Video, dem man alles vorwerfen kann, doch nicht einen Mangel an Mut. Apple traut sich etwas, indem es einen neuen Weg geht: Comedy statt Report. Oder: Report als Comedy?

Report als Comedy

Apples Mother Nature kommt daher mit einer großartigen Octavia Spencer in der ersten Hauptrolle (Mutter Natur) und einem Tim Cook in der zweiten Hauptrolle (Tim Cook). Neben der Oscar-Preisträgerin sieht er meiner Meinung nach gar nicht so schlecht aus in dem inszenierten Status Meeting. Wie auch alle anderen „Darsteller“ aus dem Apple Team.

Das Video im Detail haben bereits andere auf sein Storytelling analysiert, etwa mein Storyteling-Kollege Uwe Walther. Doch das ist für mich nicht die entscheidende Frage. Denn niemand wird das Video kopieren wollen, nehme ich an.

Fazit: Mother Nature ist ein mutiges Video. Unabhängig davon, ob es uns gefällt oder nicht, ist seit  Apples Keynote eine Frage im Raum: Können wir nach Mother Nature noch so von Nachhaltigkeit erzählen wie vorher?

Apples Mother Nature, Lektion 2: Sei radikal!

Der Kurzfilm ist für mich der Nachfolger von 1984, der vor rund 40 Jahren gezeigt wurde. 1984 ist einer der größten Werbespots aller Zeiten. Beide Filme enthalten eine Vision, das verbindet sie.

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1984 zeigt eine dystopische, von George Orwells Roman 1984 inspirierte Zukunft, die von einer jungen, namenlosen Athletin geändert wird. Sie zerstört Big Brother, den Inbegriff der Unfreiheit in einer grauen Welt.

1984 wurde übrigens von einem Meisterregisseur gemacht, dem Briten Ridley Scott, dessen Film Blade Runner in dieser Epoche eine ganz ähnliche Atmosphäre einfängt. Die Darsteller sind namenlos. Die Catchline am Ende  lautet: „On January 24th, Apple Computer will introduce Macintosh. And you’ll see why 1984 won’t be like 1984.“

Wie wird da verkauft? Mit einer Haltung. Mit einer Mission.

Natürlich gibt es in dem Video Assoziationen an IBM, den dominanten Computergiganten in dieser Ära. Man kann den Spot als Marketing lesen: Apple unterbricht die Dumpfheit der ferngesteuerten Kunden und zeigt ihnen einen Weg aus der Konformität. Oder politisch: eine Kampfansage an die graue Reagan-Ära. Oder philosophisch: ein Abschied vom Schwarzweißdenken, -fühlen, -dasein. Es gibt viele Ansätze. Und genau das zeichnet ein Meisterwerk aus: Es passt in keine Schublade.

Mutter Natur als starker Stakeholder

Apple verknüpft mit dem Produkt ein Versprechen, eine Vision. Der Macintosh steht für eine neue Welt. Das ist die Story hinter der Story.

Ganz ähnlich Mother Nature. Hier geht es um kein Produkt, keinen Service, sondern um die Aussage: Mutter Natur muss ein starker Stakeholder sein, damit wir eine Zukunft haben.

Das Video erwähnt ironisch zwei trostlose Meetings, die sie bereits aufgesucht hat an diesem Tag. „Das ist mein dritter Corporate-Responsibility-Gig heute, wer von euch will mich als erstes enttäuschen?“ Das Meeting bei Apple hingegen verlässt Mutter Natur zumindest nicht unzufrieden.

Fazit: Die Frage, die sich aus der Radikalität des Films ergibt, ist die nach einer Vision. Haben wir ein Bild von der Zukunft, eine Erzählung von Zukunft und wie wir diese prägen wollen bzw. wie unser Unternehmen diese prägen will? Kommt die Gemeinschaft darin vor und die Natur? Wie hoch ist ihr Realitätsgehalt (Fakten)? Und vielleicht: Wie können wir das Thema mit mehr Demut vermitteln als Apple?

Apples Mother Nature, Lektion 3: Sei authentisch!

Ein Kurzfilm von Apple, der meiner Meinung nach wesentlich geschmeidiger ist als das Mother Nature Video, ist The whole working-from-home thing. Großartige Unterhaltung in Zeiten von Covid; wer Lust hat meine Analyse des Videos zu lesen, ihr findet sie hier.

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Warum trifft dieses Comedy Video eher meinen Nerv? Weil es sehr reale Fiktion ist, die, ohne jegliche direkte Produktwerbung zeigt, wie die Probleme des Teams mit den Mitteln gelöst werden, die Apple zur Verfügung stellt. Das Ganze mit großer Empathie. Jeder findet sich wieder.

Es gibt noch eine ganze Galerie humorvoller Apple-Videos, etwa die PC-versus-Mac-Serie. Aber spielt da der CEO mit, das Führungsteam? Geht es da um ein das Thema, wie wir den Planeten retten? Ist das überhaupt ein Humor-Thema?

Man kann es zumindest versuchen. Dabei auf der vertrauten Schiene zu bleiben, wäre für mich authentisch gewesen im Sinne von einer stilistischen oder marketingbezogenen Authentizität. Dann hätten wir, die den Film sehen, vielleicht auch genügend Distanz und könnten womöglich sogar lachen.

Die echten Personen zu nehmen und sie in eine halb-fiktionale Welt zu stellen – das ist auch eine Form von Authentizität. Die ganze Keynote ist ja so aufgebaut.

Authentizität ist ein Narrativ

Und genau an der Stelle knallt es meiner Meinung nach. Mother Nature ist überauthentisch. Und bewegt sich so in einen Bereich, der Kritik geradezu provoziert.

Das halte ich für nicht so klug. Ich hätte mich vielleicht für eine Form der Authentizität entschieden, nicht für den Mix. Denn das „echte Apple“, das wir wahrnehmen, ist ja ein Narrativ, eine Fiktion. Zu echt bedeutet daher, zu riskieren, alles kaputtzumachen.

All die Fakten, die im Video mit Stolz vorgetragen werden – plastikfreie Verpackungen schon in Kürze, signifikant mehr Transporte per Schiff als mit dem Flugzeug, kein Leder mehr in Armbändern, Investitionen in Umweltschutzprojekte etc. – fordern mich zum Widerspruch heraus.

Wenn schon Humor, dann lass mich aufrichtig lachen und in dem Lachen die Wahrheit erkennen. Mein Schmunzeln ist kein gutes Zeichen. Oder gib mir, kreatives Storytelling beiseite, einfach nur die Fakten.

Fazit: Authentisch sein? Unbedingt! Doch was bedeutet das, wenn die Echtheit, die Apple nach außen zeigt, eine Fiktion bzw. eine Reihe von Erzählungen ist? Wie echtecht dürfen wir sein? Wie echtecht ist denn dieser Video Tim Cook eigentlich? Diese Reflexion sollte eine Basisübung aller Storyteller sein, vor allem im Corporate Umfeld. Ein Anschlussfrage wäre: Wieviel Humor können wir wagen bei einem Thema, das viele von uns zutiefst berührt und beunruhigt?