Buddhas Gleichnis vom Floß erzählt vom Loslassen im richtigen Moment. Es ist eine einfache kleine Geschichte, die niemals alt wird, weil sie jeden etwas über sich selbst lehrt. Jeden einzelnen Menschen, aber auch jede Institution, jedes Unternehmen. Es ist klassisches Storytelling in seiner schönsten Form.

Buddhas Gleichnis vom Floß

„Als Floß, ihr Mönche, will ich euch die Lehre weisen, zum Entrinnen tauglich, nicht zum Festhalten. Das höret und achtet wohl auf meine Rede.“

„Ja, o Herr!“ antworteten da jene Mönche dem Erhabenen aufmerksam. Der Erhabene sprach also:

„Gleichwie, ihr Mönche, wenn ein Mann, auf der Reise, an ein ungeheueres Wasser käme, das diesseitige Ufer voller Gefahren und Schrecken, das jenseitige Ufer sicher, frei von Schrecken, und es wäre kein Schiff da zur Überfuhr, keine Brücke diesseits um das jenseitige Ufer zu erreichen. Da würde dieser Mann denken: ‚Das ist ja ein ungeheueres Wasser, das diesseitige Ufer voller Gefahren und Schrecken, das jenseitige Ufer sicher, frei von Schrecken, und kein Schiff ist da zur Überfuhr, keine Brücke diesseits um jenseits hinüberzugelangen. Wie, wenn ich nun Röhricht und Stämme, Reisig und Blätter sammelte, ein Floß zusammenfügte und mittels dieses Floßes, mit Händen und Füßen arbeitend, heil zum jenseitigen Ufer hinübersetzte?!‘ Und der Mann, ihr Mönche, sammelte nun Röhricht und Stämme, Reisig und Blätter, fügte ein Floß zusammen und setzte mittels dieses Floßes, mit Händen und Füßen arbeitend, heil ans jenseitige Ufer hinüber. Und, gerettet, hinübergelangt, würde er also denken: ‚Hochteuer ist mir wahrlich dieses Floß, mittels dieses Floßes bin ich, mit Händen und Füßen arbeitend, heil ans jenseitige Ufer gelangt: Wie, wenn ich nun dieses Floß auf den Kopf heben oder auf die Schultern laden würde und hinginge, wohin ich will ?‘ Was haltet ihr davon, Mönche? Würde wohl dieser Mann durch solches Tun das Floß richtig behandeln?“

Zum Entrinnen tauglich, nicht zum Festhalten

„Gewiß nicht, o Herr!“

„Was hätte also, ihr Mönche, der Mann zu tun, damit er das Floß richtig behandelte ? Da würde, ihr Mönche, dieser Mann, gerettet, hinübergelangt, also erwägen: ‚Hochteuer ist mir wahrlich dieses Floß, mittels dieses Floßes bin ich, mit Händen und Füßen arbeitend, heil an das jenseitige Ufer hinübergelangt. Wie, wenn ich nun dieses Floß ans Ufer legte oder in die Flut senkte und hinginge, wohin ich will?‘ Durch solches Tun, wahrlich, ihr Mönche, würde dieser Mann das Floß richtig behandeln. Ebenso nun auch, ihr Mönche, habe ich die Lehre als Floß dargestellt, zum Entrinnen tauglich, nicht zum Festhalten.

„Die ihr das Gleichnis vom Floß, ihr Mönche, verstehet, ihr habt auch das Rechte zu lassen, geschweige das Unrecht.“

6 Storytelling-Lehren aus Buddhas Gleichnis vom Floß

Die Magie des Einfachen

Das Gleichnis fasziniert – auch und gerade in der Ära von TikTok und X. Ein Mann spricht, er erzählt eine Geschichte, die jeder von uns nachvollziehen kann, in einer denkbar simplen und konkreten Sprache. Die Worte ziehen uns in den Bann.

Die Spannung des Dialogs (und der Frage)

Wie selten schreiben wir heute noch Texte als Dialoge außerhalb von Romanen oder Theaterstücken. Anders bei Buddha, oder, vor ihm, bei Platon. Da ist alles Gespräch. Da steht die Frage im Zentrum. Es geht um die Entwicklung von Gedanken vor dem Augen des Lesers oder Zuhörers. Im Grunde werden mit den Mönchen zugleich die Leserinnen und Leser angesprochen.

Das Schillern der Wahrheit

Die Deutung des Gleichnisses gibt Buddha gleich im ersten Satz dazu. Und es ist eine Deutung, die mich sofort berührt, weil ich selbst schon so oft das Floß mit dem Ufer verwechselt habe. Aber halt! Wo liegt das Wasser, das mit dem Floß überquert werden muss? Vermutlich in uns selbst. Oder? Die Deutung geht beliebig weiter.

Das Bildhafte der Story

An dieser Geschichte ist alles Bild: Der Mann, der zu den Mönchen spricht, genauso wieder der Mann, der das Floß nutzt, um ans andere Ufer zu kommen. Bilder erinnern wir um ein Vielfaches besser als abstrakte Texte und Daten. Wir vergessen das Gleichnis nicht und beschäftigen uns auch Tage, Wochen, Monate, Jahre später noch mit ihm.

Das Weitererzählen der Story

Buddhas Gleichnis vom Floß lässt sich ganz einfach weitererzählen und in den Kontext unseres Lebens einbetten. Sie funktioniert in der Universität, in der Schule, im Unternehmen … Selbst wenn wir dazu sagen, dass diese Geschichte nicht von uns ist, nur ausgeliehen von Buddha, ist das ja ganz im Sinne des Gleichnisses. Buddha hat es liegen gelassen, nachdem er den Fluß überquert hat, um unbeschwert seinen Weg zu gehen, anstatt es sich auf die Schultern zu schnallen und sich von ihm knechten zu lassen.

Die Moral der Geschichte

Noch eine Moral: Ein Ziel der Lehre Buddhas scheint zu sein, die Theorie der buddhistischen Lehre zu übersteigen und überflüssig zu machen und seinen eigenen Wahrheitsweg zu gehen. Die buddhistische Lehre ist also keine Religion, kein Dogma. Das eigene Erleben zählt. Jede gute Geschichte hat eine Moral, sei sie nun explizit oder implizit. In klassischen Storys gibt es immer eine Herausforderung, einen Wechsel und etwas, das wir gelernt haben (Challenge, Change, Outcome).