Ein Narrativ ist zunächst einmal eine Erzählung. Es geht also um Storys und Storytelling, allerdings in einem speziellen Sinne. In diesem Beitrag finden Sie die Begriffsdefinition, Techniken und Beispiele für Narrative aus der Praxis.

Woher stammt der Begriff Narrativ und was bedeutet er?

Der Begriff hat lateinische Wurzeln (narratio). Er bedeutet ganz allgemein gesagt so viel wie Story, Bericht, Erzählung und findet sich als narrazione, narración oder narration heute in den romanischen Sprachen. Ins Deutsche gelangte das Wort Narrativ auf dem Umweg über das Englische.

Narrativ ist ursprünglich kein Begriff von der Straße. Er stammt aus dem intellektuellen Milieu. Anfang der 80er-Jahre schrieb der französische Philosoph Jean-Francois Lyotard sein Buch über „Das postmoderne Wissen“. Darin spricht er von den großen Erzählungen der Moderne über Freiheit, Aufklärung und Wissenschaft. In der englischen Übersetzung wurden diese großen Erzählungen zu Narratives, eingedeutscht: Narrativen. So kam der Begriff in die Geisteswissenschaften.

Wer von Narrativ spricht, der meint also meist eine große Erzählung. Man könnte auch sagen, eine Interpretation der Welt aus einer bestimmten Perspektive. Das Ziel ist immer, einen Sinn- und Wertezusammenhang darzustellen. Etwa die Chance des Tellerwäschers, zum Millionär zu werden (USA) oder das Ideal von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit (französische Revolution).

Wo wird der Begriff Narrativ vor allem verwendet?

In den Geisteswissenschaften, den Feuilletons – und in der Politik. Gerade dort wird das Narrativ häufig nicht als Narrativ eingeführt – als eine Interpretation, eine Deutung der Welt, die erzählend vorgetragen wird –, sondern als die Interpretation. Narrative bekommen einen Wahrheitsanspruch und verwandeln sich dabei mehr oder weniger auffällig in Propaganda, wie Putins Narrativ von der Entnazifizierung der Ukraine.

Narrative überspannen meist große Zeiträume, stellen Zusammenhänge her und ermöglichen Legitimationen der eigenen Weltsicht. Eine Analyse „toxischer Narrative“ in Deutschland findet sich hier. Der Report der Amadeu-Antonio-Stiftung zeigt, wie Fakten von rechten Akteuren ausgewählt und zu Sinneinheiten verwoben werden. Der Untergang der Deutschen, die Bedrohung von außen bzw. von innen, die globale Verschwörung. Das sind die Themen

Ein positives Beispiel von Narrativ scheinen mir die 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen.  Hier sind in einfacher und plakativer Form die großen Themen unserer Zeit versammelt – Klimawandel, Frieden, Bildung etc. – und die Ziele bilden zusammen ein Narrativ dessen, worauf es jetzt ankommt in der Welt.

Wie setzt man sich am besten mit einem Narrativ auseinander?

Zunächst einmal geht es darum, ein Narrativ erst einmal als Narrativ zu erkennen, zu verstehen, was die große Erzählung ist. Aus Storytellingsicht ist es m.E. wichtig, die grundlegende Struktur der Geschichte zu erkennen. Dabei helfen zum Beispiele Heldenreise und Masterplots.

Dann die Frage nach den grundlegenden Werten und der Moral, die eine Geschichte vermittelt. Worum geht es in der Tiefe? Nächste Frage: Wie sieht es mit dem Wahrheitsgehalt des Narrativs aus? Eine inhaltliche Auseinandersetzung ist mitunter mühevoll. Sie sollte auf jeden Fall damit beginnen nach Quellen und Belegen zu fragen. Nach den Sachen.

Der nächste Schritt wäre: Wie komme ich in den Dialog? Am besten, indem ich mir meine Position, meine Perspektive, mein Narrativ verdeutliche. Was für eine Geschichte erzähle ich eigentlich, eventuell auf Basis der gleichen Fakten oder einer bewusst anderen Auswahl von Fakten?

Und so werden Narrative wieder zu Narrativen – zu Versuchen der Deutung und des Verstehens, die eine Moral und eine Message enthalten – und ein Dialog wird produktiv.

Wie entwickelt man ein eigenes Narrativ?

Meiner Erfahrung nach eignen sich Metaphern sehr gut, um darum ein Narrativ, oder ich würde lieber sagen eine gute Story zu bauen. Die Metapher sollen mir idealer Weise helfen, die Wirklichkeit zu erschließen, sie in der Tiefe zu erfassen. Zugleich aber sollen sie anderen die Möglichkeit geben, Andockstellen für ihr Bild der Realität zu finden.

Ein Beispiel aus dem Marketing: Wenn Starbucks sich in einer früheren Phase als der dritte Ort bezeichnet hat, dann war das keine reine Beschreibung des Unternehmens, sondern dessen Narrativ oder Story in bewusst verkürzter Form. Man schafft einen Ort zwischen dem Zuhause und der Arbeit. Punkt. Dieser Ort enthält Elemente bzw. Möglichkeiten von Arbeit (WiFi) und Zuhause (Sofas), ich kann mich mehr isolieren oder mit Menschen umgeben. To go oder bleiben? Meine Entscheidung.

Ich kann, und das ist der zentrale Punkt, hier meine eigene Story erzählen, jeden Tag aufs Neue. Starbucks bietet mir nur einen Rahmen dafür an, letztlich auch mein eigenes Leben zu deuten. Und natürlich ist da implizit der Hinweis: Komm doch mal vorbei!

Und das ist der große Unterschied zu all den politischen Narrativen. Mir wird hier eine Möglichkeit geboten, auf Starbucks und meine eigene Welt zu blicken. Vom Sach- und Wahrheitsgehalt kann ich mich schnell überzeugen: einfach ausprobieren. Und wenn es mir gefällt, dann integriere ich diesen dritten Ort in meine Lebenswelt. Wenn nicht, dann lasse ich es eben.

Der dritte Ort ist ein Deutungs- und Nutzungsangebot. Nicht mehr und nicht weniger. Und so sollten Narrative im Marketing auch gebaut sein. Sie erlauben mir, ein Produkt oder einen Service zu deuten und ein Gefühl dafür zu bekommen. Die Sache selbst ist immer die Probe aufs Exempel.

Ganz allgemein würde ich sagen, dass die Narrativ-Diskussion uns vor allem in der Politik zur Vorsicht ermahnt, die Erzählung mit der Realität, oder besser: mit anderen, vielleicht treffenderen Erzählungen zu verwechseln. Dabei braucht man doch nur den Rahmen als Rahmen kenntlich machen, ihn mitzuerzählen. Dann bin ich raus aus der Welt der bewussten oder unbewussten Manipulationen oder Manipulationsversuche, die früher oder später doch sowieso durchschaut werden.