Scham und Storytelling, darüber sprach ich mit Story Coach und Regisseurin Katinka Kulens Feistl, die gerade ein Buch über dieses Thema veröffentlicht hat. Es heißt My lovely shame. 13 wahre Geschichten für deine Superkraft.

Du hast ein Buch über Scham geschrieben, My lovely Shame. Warum dieses Thema?

Da muss ich etwas ausholen. Den Anstoß dazu hat ein Freund von mir gegeben, vor etwas 4 Jahren, als ich mich in einer beruflichen Sackgasse fühlte. Wir trafen uns in einem hippen Café in Berlin-Mitte, ich jammerte und tat mir selber leid – ich bin die Königin des Selbstmitleids, wie Du weißt – und da fragte er mich plötzlich: weißt Du, was Deine größte Gabe ist, Katinka? Ich verneinte erstaunt.

Er sagte: Deine Scham. Darüber weißt Du eine Menge, darüber kannst Du den Menschen Geschichten erzählen.

Wie das oft bei wirklich guten Ideen ist, war ich unheimlich erschrocken: Was für eine peinliche Idee, dachte ich. Aber gleichzeitig habe ich mich in sie verliebt.

Denn ich wusste, er hat Recht. Scham spielt eine große Rolle in meinem Leben: Scham über große und kleine Dinge. Nicht dünn genug, nicht erfolgreich genug. Scham über die Herkunft, die Kindheit am langweiligsten Ort der Welt, über Sexualität

Scham ist in unserer Familie seit Generationen weiter gereicht worden. Das wusste ich zu dem Zeitpunkt bereits. Und ich wollte auch nicht mehr die Scham meiner Eltern spüren. Also, eine Stimme in mir sagte: Katinka, es ist Zeit. Jetzt machst Du etwas draus. Etwas Schönes.

My lovely Shame. Katinka Kulens Feistl

My lovely Shame. Katinka Kulens Feistl

Was genau ist eigentlich Scham? Wieso ist Scham lovely?

Scham ist das Gefühl, das am meisten Persönlichkeitsentfaltung verhindert. Klar, wer sich schämt, der zeigt sich nicht. Der verhüllt und versteckt sich. Und wer sich versteckt, ist nicht ganz da im eigenen Leben.

Das Wort Scham geht etymologisch auf das indogermanische Wort kam/ kem zurück, was soviel wie zudecken/ verschleiern bedeutet.

Scham und Storytelling: Hinsehen statt Wegsehen

Das Problem dabei, wenn wir unsere Scham überdecken oder abtrennen, ist, dass sie im Verborgenen unser Leben beeinflusst und bestimmt.

Beim Schreiben habe ich etwas herausgefunden, was mich umgehauen hat: dass die Scham nicht per se sagt, schau weg. Sondern sie fordert uns auf, hinzuschauen. Nur wenn wir ihr ins Gesicht schauen, verliert sie ihre Macht über uns und wir können befreiter leben.

Deshalb habe ich inzwischen ein liebevolles Verhältnis zu meiner „lovely Shame“, weil ich weiß, sie will mir nichts Böses. Sie möchte nur, dass ich hinschaue, mich auseinandersetze.

Du bist Regisseurin und Story-Coach. Wie hängen Scham und Storytelling für dich zusammen? Brauche ich das Erzählen, um mich meiner Scham zu näher?

Das Erzählen hilft auf jeden Fall, um die eigene Scham zu fassen zu bekommen und aufzulösen. Es ist wie mit dem Nebel über einem Tal früh am Morgen. Erst liegt alles im Verborgenen, aber wenn die Sonne aufgeht, löst sich der Nebel auf.

Die meisten Menschen, denen ich begegne, haben Scham-Themen, die sie peinigen. Dabei hat die Scham oft keine Substanz, sie ist nicht ein wirkliches Hindernis oder Problem, sondern nur etwas, was uns peinigt. Nichts Wirkliches.

Das habe ich auch beim Schreiben gefunden: es gab in meinem Leben nie einen Grund, mich zu schämen. Und so ist es bei den meisten Menschen.

Die meisten Menschen peinigen Scham-Themen

Wie Scham und Storytelling zusammenhängen? Die letzten Jahre bei mir sehr eng, ich denke, das wird sich aber wieder ändern.  Andere Menschen haben andere Themen, über die sie schreiben möchten. Nur eines weiß ich inzwischen: hinter der Scham sind oft unsere besten, spannendsten und berührendsten Geschichten verborgen.

Du nennst dein Buch: „Ein autobiografischer Roman. Ein erzählendes Sachbuch.“ Was bedeutet das? Könntest du das vielleicht an einem der Kapitel deines Buchs erklären?

Ja, das ist eine spannende Reise gewesen: Ursprünglich wollte ich über die peinlichsten Erlebnisse meines Lebens 12 Kurzgeschichten schreiben, in der Hoffnung, dass ich sie dadurch ausmerzen und herausreißen kann. Während des Schreibens habe ich entdeckt, dass die Geschichten zusammen gehören, dass sie eine Art autobiografischen Bogen in meinem Leben ergeben, entlang des roten Fadens Scham.

Am Ende haben diese 13 Geschichten mir eine große Antwort gegeben auf die wichtigsten Fragen in meinem Leben.

Da ich immer wieder von Menschen zu dem Projekt gefragt und in Gespräch über Scham verwickelt wurde, habe ich am Ende jeden Kapitels reflektiert, um welchen Schamaspekt es im jeweiligen Kapitel geht. Für mich sind es ganz unterschiedliche Formen von Scham, die ich erzähle: Scham über eine Entscheidung, über die erwachende Sexualität mit 13 Jahren. Scham über meine Herkunft, über meine Eltern, die Scham meiner Mutter, die sie in mich hinein gepflanzt hat. Scham darüber, etwas nicht erreicht zu haben.

Es ist eine Art Roman geworden, in dem ich immer wieder den Kontakt zur Leserin und ihrer Erfahrungswelt halten möchte. Damit die Leserinnen immer verstehen können, was es genau die Geschichte für ihre Leben bedeute kann, spreche ich sie direkt an und seziere die einzelnen Scham-Anteile.

Ein Scham-Buch, so heiter wie nur möglich

Ein Beispiel: im ersten Kapitel „Ich war jung und brauchte das Geld“ geht es darum, dass ich einen Mann heirate, den ich gar nicht kenne, weil ich mir in den Kopf gesetzt hatte, ganz berühmt und sehr besonders zu werden als Filmregisseurin. Deswegen habe ich mich ungefähr 25 Jahre geschämt und es niemandem erzählt. Am Ende des Kapitels erzähle ich, wie ich diesen Mann 25 Jahre später getroffen habe und wie meine Scham sich durch diese Begegnung in Luft aufgelöst hat, komplett, als er mir erzählt hat, wie er diese Episode in seinem Leben gesehen hat. Wieviel Positives es in seinem Leben bewirkt hat. 25 Jahre Scham umsonst sozusagen.

Welche Rolle spielt Humor in deinem Buch und generell für das persönliche Storytelling?

Humor spielt für mich neben der Scham die größte Rolle. Das ist meinem Regie-Beruf zu verdanken. Gerade weil Scham ein so schwieriges Thema ist, gehe ich es so humorvoll wie möglich an, um es dem Leser und mir selber leicht zu machen, über uns selber zu lachen oder den Kopf zu schütteln.

Als Regisseurin habe ich am liebsten Tragikomödien gedreht. Ich liebe es, wenn sich traurige und lustige Elemente in schnellem Wechsel abwechseln. Da kann man nicht radikal genug vorgehen. Das verträgt jede Geschichte. Etwas unglaubliche Trauriges und zack, etwas sehr Komisches direkt dahinter setzen.

Da sind englische und amerikanische Filme mein Vorbild. Für meinen Geschmack ist Vieles zu schwer in Deutschland. Man suhlt sich hier im Unglück und in der Schwere. Das passt nicht zu mir. So wollte ich das Thema auch nicht angehen. Ich habe also zwei Standup Komiker gebucht und bin mit ihnen das Buch durchgegangen und wir haben uns bemüht, es so heiter wie möglich zu gestalten und immer mal wieder einen Gag einzubauen.

Wenn du den Sachbuchteil von My Lovely Shame auf einige Ratschläge verdichten würdest, welche wären es? Wie kann ich meine Scham so produktiv nutzen wie du?

Erstens: wenn Dir etwas unangenehm/ peinlich ist: schau nicht weg, schau hin. Sonst bist Du Spielball Deiner Schamanteile.

Zweitens: es ist das Schönste auf der Welt, gerade die Dinge, die Dich am meisten peinigen, in etwas Konstruktives umzuwandeln, z.B. in eine Geschichte. Denn dann hast Du die Möglichkeit zu erkennen, warum dieser Schmerz da war, wozu er gut war. Und wieso Du ihn nun in eine Art Kunstwerk umwandeln darfst.

Effizienz? Nein, es geht um Selbstliebe

Drittens: Wir leben in einer Welt, die uns dazu auffordert, immer besser, effizienter, perfekter zu werden. Das macht uns nachgewiesener Maßen sehr unglücklich, denn die meisten Menschen scheitern an ihren eigenen Ansprüchen. Dann kommen Scham oder Selbsthass oder Unzufriedenheit auf.

Auf diese Weise ist es unmöglich, sich selbst wirklich umfänglich zu lieben. Dabei geht es ja vor allem um Selbstliebe. Sie ist der Schlüssel zu allem.

Wie erreichen wir Selbstliebe? Indem wir uns die Geschichten unseres Lebens anschauen. Indem wir unsere Schwächen, Fehler und falschen Entscheidungen umarmen.

Und auch begreifen, wer wir zu anderen Zeitpunkten unseres Lebens waren und, dass wir manches nicht besser wussten oder aus nachvollziehbaren Gründen gehandelt habe.

Das ist der Weg in die Selbstliebe.

Und der geht – in meinen Augen- vor allem mit Storytelling.