Vom Graffiti-Künstler zum Graphic Recorder: Benjamin Felis ist ein Meister des visual Storytelling. Er zeichnet Konferenzen, Vorträge oder Workshops live mit. Das Ergebnis: ein Poster oder auch eine Wand mit Postern, auf der die Ergebnisse dokumentiert sind.

Ich begegnete Ben auf einem Storytelling Workshop in der Berliner School of Life. Am Ende zeigte er mir ein Bild, das die Inhalte des Workshops zusammenfasste. Er hatte es auf seinem iPad gemalt. Alle Teilnehmer waren begeistert, das war die perfekte Dokumentation, schnell zu lesen, spannend, auf den Punkt. Ich wollte mehr über diese großartige Erzähltechnik wissen. Hier das Interview.

Was ist Graphic Recording und wer nutzt es?

Graphic Recording ist eine visuelle Live-Dokumentation im Rahmen von Konferenzen, Workshops oder Vorträgen. Es wird analog oder digital gemacht und versucht, Inhalte live und spontan in passende Bilder zu übersetzen und Kernaussagen visuell herauszustellen. Auch bekannt unter den Begriffen Sketchnoting, Scribing oder Visual Facilitation.

Ob Profit oder Non-Profit Unternehmen – viele Organisationen setzen es ein, um komplexe Themen in eine einfache und leicht verständliche Text- und Bildsprache zu übersetzen. Die meisten schauen sich nach einer dreitägigen Konferenz eher ein schickes und buntes Poster an, als unzählige Pdf’s und Powerpointfolien durchzuarbeiten.

Es geht darum, selbsterklärend zu gestalten und eine Geschichte nachvollziehbar zu erzählen

Super Idee, woher kommt sie?

Sie kommt, wie viele innovative Ansätze, aus den USA. Dort arbeitet man schon seit Ende der 70’er mit ähnlichen Formaten. Im Laufe der Jahre haben sie sich weiterentwickelt und sind über den angloamerikanischen Raum auch hier in Deutschland gelandet.

Mittlerweile scheint es sich in der Konferenz- und Workshopkultur fest zu etablieren, übrigens weltweit. Aus dem asiatischen Raum kommen viele neue und qualitativ sehr hochwertige Arbeiten. Und gleichzeitig kennen hierzulande viele diese Art der Dokumentation noch nicht.

Wie bist du darauf gekommen?

Durch ein Praktikum bei der internationalen Führungskräfteentwicklung der Deutschen Post/DHL im Jahre 2009. Unser Bereich war für die Top 1500 Führungskräfte weltweit zuständig – und natürlich machten Frank Appelt (CEO) und Konsorten nur die feinsten und neuesten Seminare mit. Eines Tages kamen diese dann mit einem Bild von einem Graphic Recording zurück – und ich war hin und weg! Ich selbst hatte schon viel im Trainings- und Seminarbereich mit Flipchartvisualisierungen gearbeitet. Aber so etwas hatte ich noch nie gesehen.

Es hat dann selbst noch ein paar Jahre gedauert, bevor ich mich das dann wirklich „getraut“ habe. Mittlerweile mache ich das seit fast fünf Jahren in deutscher und englischer Sprache und habe in ca. 15 Ländern gearbeitet.

Hast du eine Ausbildung für visual Storytelling oder wie lernt man das?

Es gibt vereinzelt Seminaranbieter, die „Graphic Recording“ anbieten. Auch ich unterrichte seit rund sechs Jahren „Kreatives Visualisieren“. Allerdings ist die wichtigste Kompetenz das konzentrierte Zuhören – und dieses über mehrere Stunden hinweg. Das Malen kommt erst an zweiter Stelle. Das Zuhören kann man nur durch Praxis üben. Zum Beispiel habe ich zuhause unzählige Podcasts und TED-Talks im stillen Kämmerlein mitgezeichnet und so das Recorden geübt.

Generell kommen Graphic Recorder aus zwei Bereichen: entweder aus der Illustration oder der Facilitation, also aus dem Trainings-, Beratungs- und Coachingbereich (dort liegt auch der Ursprung der Methode). Ich bin eher ein Hybrid aus beidem – ursprünglich komme ich vom Graffiti, habe aber große Teile meines Studiums und auch danach bei einer Unternehmensberatung gearbeitet, dort Seminare und Workshops konzipiert und auch geleitet.

Man braucht eine zügellose Neugier und Ausdauer

Deine Bilder wirken wie eine Mischung aus Cartoon und Infografik.

Ich habe weniger einen künstlerischen Anspruch als einen kommunikativen. Ich mag nicht nur hübsche Bilder malen, sondern will diese nach Möglichkeit selbsterklärend gestalten und eine Geschichte nachvollziehbar erzählen – sofern das „live“ möglich ist. Es kommt immer darauf an, wie vorgetragen wird.

Du machst das live. Wie schaffst du das, gleichzeitig zuzuhören und Ideen für eine Grafik zu entwickeln und zu zeichnen?

Man braucht eine zügellose Neugier und Ausdauer. Zum Teil arbeite ich 10 Stunden am Stück und höre immer noch konzentriert zu während alle anderen heimlich unter dem Tisch mit den Liebsten chatten. Da muss ich immer an Simultanübersetzer denken, die maximal 20min. am Stück arbeiten dürfen.

Wie entwickelst du die Storyline und die Bausteine?

Die Storyline ist ja durch die Vortragenden oft vorgegeben. Dennoch versuche ich, den Vortag visuell plausibel zu dokumentieren. Ich arbeite vermehrt mit grafischen Verbindungselementen und Nummerierungen um die Storyline auch später nachvollziehbar zu machen. Viele Vorträge sind nach einer Art Heldenreise aufgebaut: Der Ist-Zustand wird gestört, man macht sich auf die Suche und am Ende werden Lösungen und Learnings präsentiert.

Manchmal lasse ich bewusst weißen Raum. Das kann auch eine Botschaft sein

Wie stark ist dein visual Storytelling abhängig vom Inhalt einer Veranstaltung, vom Sprecher oder den Mitwirkenden?

Früher habe ich die Nächte vor einem Job nicht geschlafen und mich in jedes Thema intensiv eingelesen. Ich erinnere mich an vor allem an eine sehr technische Konferenz zum Thema „Smart Remote Services“.

Heute muss ich mich nicht mehr so intensiv vorbereiten. Es gibt viele Wiederholungen. Allen voran die digitale Transformation. Ob UN, multinationaler Konzern, Bibliotheksverband oder das agile Startup nebenan – jeder muss sich mit Big Data, Kundennutzen und Sozialen Medien beschäftigen. Interessanterweise sind es oft die kulturellen Aspekte, an denen Veränderungsvorhaben scheitern. Dort kann ich dann auf meine Erfahrung als Facilitator zurückgreifen. Wie oft habe ich in den letzten Jahren den Satz „Culture eats Strategy for Breakfast“ geschrieben!

Apropos Sprecher: es ist immer wieder erstaunlich, wie lange Menschen sprechen können, ohne etwas Relevantes zu sagen. Zur Not muss ich dann ein paar Laptops und Glühbirnen mehr malen.

Arbeitest du lieber digital oder analog?

Auf jeden Fall analog – vor einem handgemalten, Fünf Meter breitem Bild zu stehen ist deutlich beeindruckender als nur ein Bild auf einem Bildschirm zu sehen. Allerdings birgt digitales Recording auch viele Vorteile wie Fehler verbessern, Element verschieben, vergrößern und sofortiges Teilen auf sozialen Medien.

Es ist immer wieder erstaunlich, wie lange Menschen sprechen können, ohne etwas Nennenswertes zu sagen

Kann so ein Bild eigentlich misslingen? Was dann?

Es kann misslingen, wenn man Inhalte falsch dokumentiert. Aber das kann ich dann im Nachhinein meistens auch noch ausbessern. Manchmal lasse ich bewusst weißen Raum auf dem Papier. Das kann dann auch eine wichtige Botschaft sein.

Wie reagieren die Leute auf deine Bilder, oder soll ich lieber Grafiken sagen? Am liebsten würde ich Storys sagen, grafische Storys!

Das finde ich super! Es sollten ja auch Stories sein. Ein Kollege von mir nennt sich daher bewusst Storyteller. Meistens sind sie einfach überwältigt, müssen ganz viele Fotos machen und diese dann sofort teilen. Andere sind kritisch und schauen sich alles deutlich an und geben mir dann stellenweise auch Berichtigungen. Die sind mir fast lieber, da ich dann merke, dass sich jemand auch mit den Inhalten auseinandersetzt und sich nicht von hübschen Bildern blenden lässt. Aber beide Weisen haben ihre Berechtigung.

Es gibt auch Erklärfilme von dir: Welchen Vorteil bieten sie?

In meiner Erklärfilmfirma „Die Erklärerei“ erstelle ich mit meinem Team handgezeichnete Filme. Die Filme werden vor allem in der Top-Down-Unternehmenskommunikation verwendet, wenn es zum Beispiel darum geht die neue Strategie oder Umstrukturierungen ansprechend und emotional zu kommunizieren. Wir haben dazu auch extra einen Drehbuchautoren mit im Team, da dort das Storytelling ungemein wichtig ist! Beispiele dazu findet man auf unserer Website.