Sven Preger ist Diplom-Journalist und systemischer Coach. Anfang des Jahres erschien sein Buch Geschichten erzählen. Storytelling für Radio und Podcast. Ich sprach mit ihm über die Machart guter Geschichten, geniale neue Audioformate und No-Gos im Storytelling.

Was zeichnet eine gute Radiogeschichte oder einen guten Podcast aus?

Eine gute Geschichte erreicht mich immer auf beiden Ebenen: Herz und Kopf. Sie bewegt mich, bringt mir aber auch etwas bei bzw. lässt mich mitdenken. Etwas pathetisch ausgedrückt: eine gute Geschichte macht eine Weisheit über das Leben erfahrbar. Das gilt für fiktionale genauso wie für dokumentarische Stoffe. Das gelingt zum Beispiel den amerikanischen Podcasts S-Town (https://stownpodcast.org/) und More Perfect (https://www.wnycstudios.org/shows/radiolabmoreperfect). S-Town taucht in eine Welt ein, die ein bisschen neben der üblichen Realität liegt. Und More Perfect kümmert sich um die Entscheidungen des Supreme Courts in den USA geht. Beides ganz unterschiedlich, beides faszinierend.

Dabei gelten diese Aussagen für gute Radiogeschichte und gute narrative Podcasts. So bezeichne ich Podcasts, in denen Geschichten erzählt werden. In Abgrenzung zu Podcasts, in denen sich Menschen über ein Thema unterhalten, was manchmal ja auch als „Laber-Podcast“ bezeichnet wird – dabei ist das je nach Tonlage mal liebevoll, mal etwas abwertend gemeint. Hier bitte einen eher wohlwollenden Tonfall mitdenken. Bei diesen Podcasts kommen ein paar andere Faktoren zum Tragen: dazu gehören Alleinstellungsmerkmal oder Personality der Hosts. Egal, welche Form gewählt wird, entscheidend ist außerdem das, was ich Erzählhaltung nenne: Die Erzähler*in von Geschichten müssen genauso wie die Hosts in Podcasts authentisch und glaubwürdig sein.

Storytelling hilft, das Beste aus einem Stoff herauszuholen

Welche Rolle spielt Storytelling dabei?

Eine ganz zentrale Rolle. Storytelling hilft dabei, den Blick für eine Geschichten zu schärfen und in diesem Sinne das Beste aus einem Stoff herauszuholen. Dabei muss man sich immer wieder klar machen, was Storytelling bedeutet – und was eben auch nicht. Storytelling fragt danach, wie ich mit der Hilfe von dramaturgischen Techniken eine Geschichte erzählen kann. Und zwar so, dass sie mich von Anfang bis Ende interessiert und spannend ist. Dabei geht es im Journalismus immer zentral darum, ein angemessenes Abbild von Realität wiederzugeben und zu erzeugen. Storytelling ist also selbstverständlich keine Aufforderung dazu, zentrale Aspekte wegzulassen oder unwichtige Details zu überbetonen. Manchmal erkennen wir in dokumentarischen Stoffen allerdings gar nicht, was uns dabei helfen könnte, eine Geschichte für unser Publikum spannend zu erzählen. Weil wir nicht die passenden Fragen an unseren Stoff stellen.

Im Ergebnis kommen so häufig unnötig langweilige Beiträge zustande. Und was nutzen mir O-Töne aller Fraktionen im Bundestag zu einem bestimmten Thema wie Renten- oder Gesundheitsreform, von denen ich schon vorher weiß, was die Personen sagen werden?

Wichtig ist natürlich, dass man das Handwerk beherrscht: Prolepse, Promythion, Aktstruktur, Heldenreise, Protagonist, Plot Point etc. – da haben wir im Journalismus noch deutlich Luft nach oben. Denn nur wenn ich das Handwerk beherrsche, kann ich es auch gezielt einsetzen oder mich bewusst dagegen entscheiden.

Unterscheidet sich das Storytelling in Podcast und Radio?

Nicht so sehr wie man vielleicht auf den ersten Blick meint. Was ich damit sagen will: die Gemeinsamkeiten zwischen einer guten Geschichte im Radio und einem guten narrativen Podcast sind hoch. Die Geschichte muss immer spannend sein, wirklich erzählt werden, mich berühren, dramaturgisch gut aufgebaut sein und so weiter. Das ist das Entscheidende.

Podcasts bieten die Chance, noch längere und komplexere Geschichten zu erzählen

Und dann gibt es natürlich Unterschiede, die vor allem etwas mit der Rezeptions-Situation zu tun haben. Die Flexibilität von Podcasts bietet uns die Chance, noch längere und komplexere Geschichten zu erzählen (was ja recht anspruchsvoll ist!) als es vielleicht allein im linearen Radio möglich ist. Ich denke da zum Beispiel an große Serien und Reihen wie zum Beispiel die erste und dritte Staffel von Serial: https://serialpodcast.org.

Häufig überbetonen wir aber diesen Unterschied. Möglicherweise auch, weil wir den unmittelbar verstehen. Dadurch ziehen wir aber zu häufig noch die falschen Konsequenzen, nach dem Motto: ach, Podcasts dürfen ja so lang wie irgend möglich sein, da darf man auch mal abschweifen etc. Das ist wenig hilfreich. Dabei sollten wir das Augenmerk lieber darauf richten, wie ich eine gute Geschichte erzählen kann. Dann wird die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in beiden Medien funktionieren.

SvenPreger_GeschichtenErzählen

Welchen Podcast und welche Radiosendung muss ich hören, wenn ich State-of-the-Art-Storytelling erleben will?

Da gibt es zum Glück eine ganze Menge, so dass man sich das raussuchen kann, was einen interessiert. Ich persönlich liebe More Perfect sehr: https://www.wnycstudios.org/shows/radiolabmoreperfect. Der Podcast erzählt nicht nur in jeder Folge einen spannenden Fall vor dem höchsten Gericht der USA (manchmal konzentriert sich die Geschichte auch nicht nur auf einen Fall, sondern auf die Arbeitsweise des Gerichts oder die Historie, das ist auch toll!), sondern ich lerne auch noch etwas über das Justizsystem der USA oder wie Gerechtigkeit gelebt werden kann (oder eben auch nicht). Damit entsteht ein tieferes Verständnis für die amerikanische Gesellschaft, wodurch ich auch aktuelle Entwicklungen viel besser sortieren kann. Journalistisches Storytelling auf höchstem Niveau! Herausragend finde ich zum Beispiel die Folge zur Second Amendment, in der es um den Umgang mit Waffen in den USA geht: https://www.wnycstudios.org/story/radiolab-presents-more-perfect-gun-show

Was Sarah Koenig in Serial vollbracht hat, ist ganz große Erzählkunst

More Perfect ist ein Spin-Off von Radiolab. Das ist mein zweiter Tipp: Wissenschaft spannend und akustisch anspruchsvoll umgesetzt. Ein Akustik-Feuerwerk. Von CRISPR bis Eiskunstlaufen. Mich hat zum Beispiel die Geschichte über die Eiskunstläuferin Surya Bonaly sehr bewegt: https://www.wnycstudios.org/story/edge

Was mich auch immer wieder emotional sprachlos zurücklässt, weil die Geschichten so liebevoll, leise und intim erzählt sind, sind die Geschichten von Invisibilia, einem Podcast von NPR. Zum Beispiel die Geschichte eines Locked-In-Patientin, nicht reißerisch, sondern zugewandt und fast liebevoll erzählt: https://www.npr.org/2015/01/09/375928581/locked-man

Apropos Erzählhaltung. Da muss man aus meiner Sicht Sarah Koenig erwähnen. Was sie in Serial vollbracht hat, ist ganz große Erzählkunst. Die erste Staffel gehört natürlich mittlerweile zum Kanon. Nach einer schwächeren zweiten Staffel fand ich auch die dritte Staffel wieder sehr stark, die sich Woche für Woche in ein- und demselben Gerichtsgebäude abspielt (mehr oder weniger): https://serialpodcast.org/. Einfach mal den Beginn der ersten Folge hören, die mit einer Miniatur beginnt. Sehr stark.

Serial ist ja aus dem Umfeld von This American Life entstanden. Auch das ist ein wirklich großartiges Storytelling-Programm. Die #metoo-Story halte ich für ein herausragendes Beispiel: https://www.thisamericanlife.org/640/five-women

Das war jetzt alles der amerikanische Markt. Doch natürlich haben wir auch hier in Europa und gerade im deutschsprachigen Raum tolle Formate. Die Einhundert von Deutschlandfunk Nova hat sich This American Life zum Vorbild genommen. Eine wirkliche Neu-Entwicklung in Deutschland, die der Redaktion auch schon den deutschen Radiopreis für die beste Reportage eingebracht hat: https://www.deutschlandfunknova.de/podcasts/download/einhundert

Beim Storytelling Coaching geht es im Kern um die Wertschätzung für Biografien, für Menschen und ihre Geschichten

Aber auch im freien Podcast-Markt gibt es gerade tolle Entwicklungen. Dabei ist es interessant zu sehen, dass die Sphären Radio & Podcast, die in Deutschland lange getrennt waren, sich nun annähern. Das hat ganz zentral auch etwas mit der gerade sehr aktiven Generation Podcasterinnen zu tun! Dazu gehören zum Beispiel: Nora Hespers (u.a. Die Anachronistin, Was denkst Du denn?) Ann-Kathrin Büüsker (u.a. Deutschlandfunk Der Tag, Filterbabbel), Katarina Hagstedt (My Survival Story) und die Medienforscherin Nele Heise. Da lohnt sich auch immer ein Blick auf podcasterinnen.org.

Und natürlich gab es nach der ersten Serial-Staffel auch gerade in Deutschland etliche Serien. Das ist ja immer blöd, sich selbst zu erwähnen, aber ich glaube, Stephan Beuting und ich haben mit dem Anhalter ganz gut zeigen können, was eine gute Serie ausmacht. Da ist Anfang 2019 der sechste und allerletzte Teil erschienen: https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/tiefenblick/der-anhalter-dokuserie-100.html

Sie sind nicht nur Journalist, sondern auch systemischer Coach. Worauf kommt es beim Storytelling Coaching an?

In meinem Kopf war das immer schon eine sehr logische Verknüpfung. Es geht im Kern um die Wertschätzung für menschliche Biografien, für Menschen und ihre Geschichten. Sich diesen zu nähern, mit Respekt, Wärme und ohne Vorverurteilung. Darum geht es im journalistischen Storytelling genauso wie im systemischen Coaching. Dabei bin ich eine Art Mentor, der den Menschen bei ihrer Entwicklung hilft. Dabei geht es im Coaching wie im Storytelling um dieselben Dinge: Ziele, Motivation, Hindernisse, Entwicklung. Selbst Coaching-Techniken wie ein Werte-Interview (in dem wir zum Beispiel explorieren, was einem Menschen erstrebenswert im Leben erscheint) ist letztendlich Storytelling. Um solche Themen geht es auch in der Unternehmens-Welt, wenn es um die großen Themen Digitale Transformation und Kulturwandel geht.

Mein wichtigstes Tool: Struktur!

Entscheidend für mich ist dabei immer, mit welcher Haltung ich Klienten gegenübertrete. Ich versuche, wirklich offen, nicht beurteilend zu sein. Und ich muss zugeben: das hilft mir auch, wenn ich als Journalist an Geschichten arbeite. Dabei befruchtet sich das Handwerk: Coaching-Fragen sind manchmal sehr hilfreich im Journalismus. Und umgekehrt.

Das ist der Bereich des systemischen Coachings. Davon zu unterscheiden sind natürlich die Workshops, Seminare und Format-Entwicklungen, in denen ich dann Tools fürs Storytelling beibringe oder Format-Entwicklungen als Story-Consultant begleite.

Was ist Ihr Rezept für spannende erzählende Audioformate?

Oha. Das wird eine sehr unromantische Antwort. Mein wichtigstes Tool: Struktur! Storytelling ist Struktur. Ohne Struktur keine Kreativität. Kreativ sein heißt ja, das Beste unter bestimmten Bedingungen zu gestalten. Alles andere ist Beliebigkeit. Die Struktur gibt mir den Freiraum, auf meinen Bauch zu hören und den emotionalen Zugang zu finden.

Konkret heißt das. Als erstes gibt es eine Stoffprüfung. Ganz pragmatisch habe ich für mich drei Faktoren entdeckt, mit denen ich Stoffe darauf prüfe, ob sie zu einer Geschichte taugen. Der erste: es muss mich eben im Innersten bewegen und eine tiefe Emotion in mir anrühren. Was ist der größte Fehler, den ein Justizsystem begehen kann? Wahrscheinlich ist es die Tatsache, einen Unschuldigen zu verurteilen. Um diese Möglichkeit dreht es sich zentral in der ersten Staffel von Serial (https://serialpodcast.org/season-one). Auch deshalb hat das so viele Menschen bewegt.

Der zweite Faktor ist sozusagen das Risiko: Was steht auf dem Spiel? Das ist eher ein handwerklicher Faktor. Ohne dieses Risiko wird es wahrscheinlich schwierig, in einer längeren Geschichte Spannung aufrecht zu erhalten. Vielleicht ist Sarah Koenig in der ersten Staffel von Serial die letzte Chance für Adnan Syed. Wenn sie es nicht schafft, bleibt ein mögliches Unrecht weiter bestehen. Das ist schwer auszuhalten.

Saubere journalistische Arbeit ist eine notwendige Bedingung für Storytelling

Und der dritte Faktor: die Geschichte muss über sich als Einzelfall hinausweisen. Es muss so etwas wie eine größere Idee hinter der Geschichte geben. Im Podcast More Perfect lerne ich neben den spannenden Fällen auch immer etwas über das Justizsystem der USA oder über grundlegende Werte wie Gerechtigkeit. Kommt alles das zusammen, kann es eine ganz große Geschichte werden.

Dabei darf man sich selbst nicht anlügen. Sonst fällt einem das später vor die Füße. Wenn ich nicht sofort Antworten finde, dann heißt es erstmal: recherchieren, einlesen, Archiv-Arbeit, ein Gefühl für Thema und Umfeld bekommen. Saubere journalistische Arbeit ist eine notwendige Bedingung für Storytelling. Kann ich meine Fragen beantworten, dann versuche ich einen Erzählsatz zu bilden. Dafür habe ich je nach Dramaturgie ein Schema entwickelt. In einer klassischen Protagonisten-Geschichten frage ich mich: Wer verfolgt hier welches Ziel? Warum? Und auf welche Hindernisse stößt diese Person dabei? Das versuche ich in ein, zwei Sätze zu fassen. Dann habe ich auch meinen Pitch. Und vielleicht bekomme ich schon eine Ahnung davon, wie die Geschichte laufen könnte. Das entwickele ich so weit wie möglich.

Dabei versuche ich darauf zu achten, dass das Rückgrat der Geschichten Szene sind (echte Szenen, bei denen ich als Reporter dabei sein kann, oder rekonstruierte Szenen, die mir Menschen zum Beispiel im Interview nach-erzählen können). An diesem Punkt kann ich meistens ganz gut abschätzen: diese Geschichte trägt oder eben nicht.

Ich suche während des Schreibens schon Geräusche und Musik zusammen

Dann geht es an die Detail-Arbeit: Interviews führen, weitere Recherchen etc. Alles das, was journalistische Feldarbeit ausmacht. Dabei verfeinere ich den Plot der Geschichte. Für mich zentrale Merkmale sind dabei: starke Einstiegs-Szene, auslösendes Ereignis für die Geschichte, Plot Points, Hindernisse, Höhepunkt und Rausschmeißer. Wenn ich alle Aufnahmen beisammenhabe, schreibe ich einen Plot-Entwurf oder für größere Serien ein Storyboard. Das ist der Arbeitsschritt, in dem die Geschichte wirklich entsteht. Das ist die zentrale Gedankenarbeit. Und schafft mir die Freiheit, mich beim Schreiben dann ganz aufs Schreiben und die akustische Inszenierung zu konzentrieren. Ich suche nämlich während des Schreibens schon Geräusche und Musik zusammen. Denn das wird meinen Text deutlich verändern und prägen. Gerade für komplexe Stoffe halte ich dieses strukturiere Vorgehen für unerlässlich. Sonst entsteht Chaos und man hat den Prozess nicht mehr im Griff. Ab einer Länge von sagen wir 10 oder 15 Minuten ist dieses Vorgehen meines Erachtens sinnvoll. Dann macht die Inszenierungs-Arbeit im (Home-)Studio dann auch wirklich Spaß! Das ist immer der schönste Arbeitsschritt! Die Geschichte nun zu erzählen und zum Klingen zu bringen.

Journalisten finden meist irgendwie einen Anfang und ein Ende – aber was passiert dazwischen?

Was sind die häufigsten Storytelling-Probleme im Radio oder Podcast? Wie lassen Sie sich lösen?

Davon gibt es ein paar. Ich nenne mal vier wichtige:

  1. Die Hölle des zweiten Aktes. Dieses Problem ergibt sich häufig, wenn es keine Story-Planung, also keinen Plot-Entwurf gibt. Als Journalisten finden wir meistens irgendwie einen Anfang und vielleicht haben wir auch eine Idee für das Ende. Aber was passiert dazwischen? Nach einem tollen Einstieg reiht man irgendwann Infoblock an Infoblock. Es wird langweilig. Die Lösung: Zwingen Sie sich zu Erzählsatz und Storyboard. Die Zeit, die man hier investiert, holt man beim Schreiben locker wieder raus.
  2. Das Zwei-Geschichten-Problem. Wir wollen zu viel. Natürlich fallen einem zu jeder Geschichte noch ganz viele Aspekte ein. Eine politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche Dimension. Doch das wird sehr schnell sehr langweilig. Und führt zu Brüchen in der Narration. Man hat beim Hören das Gefühl: Wo kommt das jetzt her? Die Lösung: Entscheiden Sie sich für eine Geschichte und erzählen Sie diese. Und nur diese.
  3. Ergebnisse werden vorweggenommen. Das ist ein klassisches Journalismus-Problem. Wir sind es als Journalisten gewöhnt, Dinge zu recherchieren und dann die Ergebnisse zu präsentieren. So kann aber keine Spannung entstehen. Das Wesen von Spannung ist es, Fragen zu erzeugen und erst spät zu beantworten. Wenn Hörer*innen wirklich die Antwort wissen wollen, nicht vorher. Die Lösung: Versuchen Sie nicht Ergebnisse zu liefern, sondern ein Erlebnis. Hörer*innen sollen am Erkenntnisprozess teilhaben. Dafür muss ich mich natürlich auch als Journalist von meiner allwissenden Haltung verabschieden. Für viele ist das, sagen wir mal, eine Herausforderung.
  4. Schwache oder langweilige O-Töne. Was nutzen mir die vorhersehbaren und gestanzten Statements von Funktionsträgern? Ja, manchmal sind die notwendig, aber nicht immer. Lösung: Haben Sie Mut, mit aussagekräftigem Material zu arbeiten. Töne, die etwas enthüllen, mit viel Subtext – und vor allem szenisch sind.

Nicht Host oder Erzähler sind der Star, die Geschichte ist es

Gibt es typische No-Gos beim Storytelling im Radio und im Podcast?

Aus meiner Sicht gibt es zwei große Missverständnisse. Das erste Missverständnis: im Podcast ist alles erlaubt. Ich versuche mal zu erklären, was ich damit meine. Ich höre gerade häufig in Workshops, Seminaren oder bei Format-Entwicklungen den Satz: Podcasts sind so toll, da darf man auch mal abweichen und ausschweifen. Die Konsequenz: Journalist*innen tendieren dazu, dem Hörer jetzt mal in aller Ruhe ihre Kompetenz zu beweisen oder zu erklären, was der Hörer wirklich wissen muss! Das ist natürlich fatal! Und führt meistens genau zum Gegenteil: man fühlt sich belehrt, von oben herab behandelt. Na klar ist es nicht schlimm, mal zwei Sätze abzuweichen oder einen Seitenaspekt zu erwähnen. Das hat ja auch was mit einer normalen Sprechweise und Unterhaltung zu tun – die läuft ja auch nicht immer ganz stringent. Insofern ist das authentisch. Aber auch hier gilt: ein bisschen Struktur und Selbst-Disziplin helfen.

Daran hängt auch das zweite Missverständnis. Oder vielleicht ist Missverständnis hier das falsche Wort. Es geht eher darum, dass ein Arbeitsschritt häufig fehlt. Nämlich der, sich bewusst zu machen, mit welcher Haltung ich als Host oder Erzähler ans Mikrofon trete. Vielleicht haben einige das auch noch nie reflektiert. Nicht Host oder Erzähler sind der Star, sondern die Geschichte. Das bedeutet: Ich bin dann eben nicht mehr der allwissende Journalist, der seiner eigenen Community beweisen will, wie klug er oder sie doch ist. Sondern ich brauche eine Haltung, die meiner Geschichte dient. Das hat häufig was mit echter Neugier und Bescheidenheit zu tun.

Menschen werden durch Geschichten nicht bloßgestellt, verletzt oder unfair behandelt. Im Gegenteil

Wo sind Ihrer Meinung nach die Grenzen des Erzählens im Radio und im Podcast?

Grenzen? Welche Grenzen? Der große Vorteile von Radio und Podcast ist es ja gerade, Raum und Zeit auflösen zu können – uns überall mit hinzunehmen! Im Ernst: Grenzen sind wie immer da, wo entweder moralisch-ethische Aspekte berührt sind. Menschen werden durch Geschichten nicht bloßgestellt, verletzt oder unfair behandelt. Im Gegenteil: gerade lange Formate bieten Platz für Differenzierung. Das ist einer der Vorteile von Storytelling!

Und natürlich greifen auch die klassischen journalistischen Grenzen. Nochmal: es geht darum, ein angemessenes Abbild von Realität zu zeigen. Was nicht stimmt oder verzerrt wird, hat im Storytelling bei nicht-fiktionalen Stoffen nichts zu suchen. Und ganz ehrlich: für die allermeisten ist das auch eine absolute Selbstverständlichkeit!

Ich höre von Journalisten häufig, Storytelling sei nicht seriös. Es wird gern auf den Spiegel verwiesen, auf den Fall Relotius, der die gute Story über die Fakten stellte.

Ah interessant. Wie meinen die Journalisten das denn? Denn ehrlich gesagt verstehe ich den Zusammenhang nicht so ganz: bewusste Fälschung hat mit Storytelling nichts zu tun. Es steht dem Wesen des Storytellings sogar entgegen. In Geschichte geht es um persönliche Entwicklung und darum, Lösungen zu finden. Storytelling steht dem konstruktiven oder lösungs-orientierten Journalismus so nahe wie kaum eine andere Darstellungsform. Nachrichten, Berichte etc. konzentrieren sich häufig allein auf das Problem. Das würde eine echte Geschichte schon im Keim ersticken.

Das Leben ist komplexer, schleichender, manchmal nicht so akzentuiert. Es gibt nicht immer den einen Höhepunkt

Man darf die Methode nicht mit der schlechten Anwendung verwechseln. Das ist vielleicht etwas arg spitz formuliert, aber auch hier hilft einfach Differenzierung.

Ich verstehe natürlich schon, dass die Gefahr besteht, zu sagen: Wenn das so und so wäre, dann wäre das für den Lauf der Geschichte noch besser. Dann gäbe es einen echten Höhepunkt. Aber das hat dann eben nichts mehr mit Journalismus oder Storytelling für dokumentarische Stoffe zu tun. Ich würde sogar so weit gehen und sagen: es ist doch toll, wenn uns reale Geschichten auch immer wieder zeigen, dass es nicht immer wieder den einen Höhepunkt gibt. Das Leben ist komplexer, schleichender, manchmal nicht so akzentuiert. Und dann kann ich mich fragen, an welcher Szene ich vielleicht genau das verdeutliche. Und schon habe ich eine komplexe und angemessene Geschichte! Eine gute Geschichte macht Fakten erfahrbar. Ohne Fakten ist eine Geschichte also gar nicht möglich.