Professionelles Storytelling – ich wollte wissen: Was genau meint Ron Kellermann, wenn er diese Formulierung verwendet? So schickte ich Ron ein paar Fragen zu seiner Arbeit und seinem gerade erschienenem Storytelling Handbuch. Heraus kam das längste Interview, das ich in diesen Blog bisher veröffentlicht habe. Zugleich eins der spannendsten und aufschlussreichsten für alle, die Business Storytelling verstehen und erlernen wollen.
Ron ist Filmdramaturg, Drehbuchdozent und Autor. Er hat über 250 Autorinnen und Autoren bei der Entwicklung ihrer Drehbücher dramaturgisch beraten und über 350 Seminare und Workshops geleitet. Seit 2007 beschäftigt er sich mit dem Thema Storytelling und hat die Methode „Professionelles Storytelling“ – das Storythinking– entwickelt. Seit 2014 ist er Senior Consultant Storytelling im Expertennetzwerk von „die firma . experience design“ aus Wiesbaden. Ron hat prominente Kunden wie das Goethe Institut München, die Neue Zürcher Zeitung TV oder die Macromedia-Hochschule für Medien und Kommunikation.
Was ist deine Story? Wie bist du zum Storytelling gekommen?
Die Story, die davon erzählt, wie ich zum Storytelling gekommen bin, beginnt mit den Worten „Eigentlich wollte ich ein berühmter Drehbuchautor werden…“ Sie führt über meine Arbeit als Filmdramaturg, Drehbuchdozent und Autor, meiner ersten Berührung und anschließender Beschäftigung mit Storytelling zu der Erkenntnis, dass ich Storytelling – also das Erzählen realer Geschichten – interessanter finde als das Drehbuchschreiben, weil man mit ihm mehr Positives bewirken kann als mit dem Erzählen fiktiver Geschichten.
Man kann mit dem dramaturgischen Fragenkatalog die Wirklichkeit analysieren, verstehen, darstellen und gestalten
Zwei Personen sind in dieser Story besonders wichtig: Marco Fischer, der Geschäftsführer von die firma . experience design, und der Musiker, Tanzdramaturg und Konzeptentwickler Guido Preuß. Aus der Perspektive der Archetypenlehre des dramaturgischen Modells der Heldenreise betrachtet ist Marco ein Herold, also der Überbringer von Nachrichten. Er drängte mich zum einen immer wieder, mich mit dem Thema Storytelling zu beschäftigen, was ich zu der Zeit jedoch ablehnte, weil ich auf Drehbuchschreiben fixiert war. Als ich mich dann doch dem Thema widmete, schlüpfte er in die Rolle des Archentypen des Mentors und unterstützte mich in vielen abendfüllenden Gesprächen über das Thema bei der Entwicklung meiner Storytelling-Methode im Hinblick auf das Unternehmens-Storytelling.
Guido übernahm ebenfalls die Funktion eines Mentors, indem er mich eines Tages anrief und mir so lange seinen Liebeskummer klagte bis er anfing, mir auf die Nerven zu gehen und ich spontan vorschlug, seinen Liebeskummer einmal als Spielfilm zu betrachten und ihn gemeinsam mit mir dramaturgisch zu analysieren. Das Ergebnis war verblüffend: Am Ende unserer Analyse verstand er, wie es so weit kommen konnte, er erkannte, was sein Anteil daran war und er konnte neue Handlungsoptionen entwickeln, mit denen er den weiteren Verlauf seiner „Liebesgeschichte“ gestalten wollte.
Vom Film zum allgemeinen Storytelling-Handbuch? Wie kam das? Welchen Leser stellst du dir für das Buch vor?
Das Gespräch mit Guido war letztlich der Anstoß – dramaturgisch gesprochen das „auslösende Ereignis“ – für meine Beschäftigung mit dem Thema Storytelling, in deren Verlauf ich die Methode Professionelles Storytelling entwickelte. Denn in diesem Gespräch wendete ich zum ersten Mal die Werkzeuge der Filmdramaturgie, mit denen Drehbuchautorinnen und -autoren ihre fiktiven Geschichten entwickeln und mit denen Filmdramaturgen sie dabei unterstützen, auf ein reales Ereignis und eine reale Person an und stellte fest: Es funktioniert. Man kann mit dem dramaturgischen Fragekatalog die Wirklichkeit analysieren, verstehen, darstellen und gestalten.
Ich vermisste ein tiefgreifendes Verständnis der existenziellen Funktion, die das Geschichtenerzählen für uns Menschen hat
Also fing ich an, Storytelling-Seminare und -Workshops zu entwickeln und zu leiten. An einem dieser Workshops nahm Gregory Zäch teil, der Verleger des midas Verlags aus Zürich. Nach dem Workshop machte er mich darauf aufmerksam, dass es kein „Grundlagen-Werk“ gibt, das die Bandbreite der dramaturgischen Werkzeuge darstellt und ihre Funktionsweise erläutert, und fragte mich deshalb, ob ich meine Storytelling-Methode bei ihm als Buch veröffentlichen will. Das wollte ich natürlich, allerdings mussten wir das Buch verschieben, weil zu der Zeit meine Frau mit unserer ersten Tochter schwanger war und ich wusste, dass ich nach der Geburt erst einmal keinen Kopf und keine Zeit dafür haben würde, ein Buch zu schreiben. Etwas mehr als zwei Jahre später nahmen wir das Buchprojekt dann wieder auf.
Die Leserschaft, die ich mir für mein Buch wünsche, lässt sich in zwei Gruppen einteilen: Es richtet sich zum einen an Menschen, die beruflich professionell kommunizieren und Storytelling dafür nutzen wollen. Zum anderen wünsche ich mir Leserinnen und Leser, die ihren Blick auf die Wirklichkeit erweitern und ein erkenntnisgenerierendes Erklärungsmodell dafür anwenden wollen.
Du führst in deinem Storytelling-Handbuch ein Modell für die Entwicklung von Storys ein, das nennst du „professionelles Storytelling“. Könntest du das bitte erläutern?
Als ich nach dem Telefonat mit Guido anfing, Storytelling-Bücher und -Blogs zu lesen, stellte ich fest, dass es zwar viele interessante Ansätze und Beispiele für gutes Storytelling gibt, dass aber die fiktionale Dramaturgie – also die professionelle Disziplin des Geschichtenerzählens – über eine ganze Reihe weiterer Werkzeuge und Techniken verfügt, die sich im Storytelling nutzen lassen und es damit weiter professionalisieren können.
Außerdem vermisste ich ein tiefgreifendes Verständnis der existenziellen Funktion, die das Geschichtenerzählen für uns Menschen hat, insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung unserer Identität und die Gestaltung unserer Beziehungen, also die Konstitution und Stabilisierung der Gemeinschaften, denen wir angehören.
Ich will zeigen, welch hervorragende Methode Professionelles Storytelling ist, um das Leben und die Welt zu verstehen
Sowohl das erweiterte Set an dramaturgischen Werkzeugen als auch das Verständnis von Geschichtenerzählen als existenziell können meiner Meinung nach das Storytelling professionalisieren und es auf neue Anwendungsfelder ausweiten. Das ist letztlich der Grund, der dazu geführt hat, dass ich das Buch geschrieben habe, meine persönliche Antwort auf die wichtige Frage nach dem Warum: Ich will einen Beitrag dazu leisten, das Storytelling im deutschsprachigen Raum zu professionalisieren und zeigen, welch hervorragende Methode es ist, um das Leben und die Welt zu verstehen und zu gestalten und dadurch Orientierung und Sicherheit zu erlangen.
Was verbindet, was unterscheidet dein Modell von anderen Modellen, etwa von der Heldenreise?
Was zunächst einmal alle dramaturgischen Modelle gemeinsam haben – sei es das Ziel-Motivation-Modell, auf dem Professionelles Storytelling hauptsächlich aufbaut, das Mode-Need-Modell, das 3-Lines-Modell, das Pyramiden-Modell oder die Heldenreise – ist, dass sie allgemein formuliert Veränderungsprozesse beschreiben: Am Ende einer Geschichte ist etwas anders als am Anfang. Die grundlegenden Fragen, auf die Geschichten eine Antwort geben, sind daher: Was verändert sich? Wie verändert es sich? Und vor allem: Warum verändert es sich?
Die narrative Beschreibung solcher Prozesse und Veränderungen vermittelt eine Botschaft über das (glückliche) Leben, das Menschsein, ein Unternehmen, die Gesellschaft, die ganze Welt. Sie verleiht einer Geschichte Bedeutung und Sinn.
Das Besondere an der Heldenreise ist, dass ihr Verständnis von Heldentum die Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft auf eine bestimmte Weise beschreibt und eine klare Wertung impliziert: Ein Held ist jemand, der sich für seine Gemeinschaft einsetzt, sein Ego ihr zugunsten zurückstellt, ihretwegen auf etwas verzichtet, ihr etwas zurückgibt oder etwas mit ihr teilt, um zu ihrem besseren Funktionieren beizutragen, oder der sich sogar für sie opfert, um sie zu retten.
Die Heldenreise erzählt von einer Heldwerdung
Dieses ursprüngliche, mythologische Verständnis von Heldentum wird leider seit einigen Jahren immer weiter ausgehöhlt, indem es auf eine bestimmte Handlung – auf eine Heldentat – reduziert und inflationär verwendet wird. Diese naive Heldentat zeichnet sich nicht dadurch aus, dass sie sich auf die Gemeinschaft bezieht, sondern auf das Individuum, den vermeintlichen Helden, auf seinen Mut, seine Risikobereitschaft und seine Waghalsigkeit.
Ein Beispiel hierfür ist der Red-Bull-Stratosphären-Sprung. Das Marketing bezeichnet solche Events sogar als »Hero Content«. Auch viele journalistische Inhalte nannten Felix Baumgartner einen „wahren Helden“. Kein anderes Verständnis könnte falscher sein. Das soll nicht heißen, dass solche Aktionen nicht trotzdem sehr erfolgreich sein können. Viele von ihnen erzeugen enorm viel Aufmerksamkeit. Sie haben nur nichts mit Heldentum im mythologischen Sinne der Heldenreise zu tun. Ganz im Gegenteil.
Denn die Heldenreise in diesem Verständnis erzählt nicht von einem mutigen Helden, der auf spektakuläre Weise riskante Taten vollbringt. Vielmehr erzählt sie von einer Heldwerdung: Am Anfang der Geschichte ist der Hauptprotagonist weit davon entfernt, ein Held zu sein. Er wird erst im Laufe der Geschichte zu einem, indem er sein anfängliches Ego überwindet und sich für die Gemeinschaft einsetzt. Die „Meta-Botschaft“ der Heldenreise lautet daher: „Die Gemeinschaft ist wichtiger als das Ego des Individuums.“
Professionelles Storytelling ist für mich konstruktiv und optimistisch
Professionelles Storytelling ist zwar insbesondere hinsichtlich seiner Anwendung in Unternehmenskontexten stark von der Heldenreise und ihrem Verständnis von Heldentum geprägt, enthält sich aber prinzipiell einer Wertung. Mit ihm können also auch Storys entwickelt werden, die die Aussage „Das Ego ist wichtiger als die Gemeinschaft“ treffen. Oder wie die Post-Bank einmal so schön verlautbarte: „Unterm Strich zähl´ ich.“
Da es vor allem in jüngerer Zeit schon genug oder eher sogar zu viele negative Botschaften mir destruktiven Wirkungen auf der Welt gibt, ist Professionelles Storytelling für mich persönlich allerdings immer lösungsorientiert, konstruktiv und optimistisch.
Für die Heldenreise gibt es eine einfache Skizze zur Veranschaulichung, ein Bild, das sich auf eine Serviette zeichnen lässt. Magst du mir für meinen Blog auch so eine Skizze für deinen Ansatz malen? Gern auf eine Serviette!
Die Veranschaulichungen der meisten dramaturgischen Modelle beschreiben hauptsächlich die lineare Abfolge der Entwicklungsschritte eines Veränderungsprozesses. Diese ist natürlich auch im Professionellen Storytelling wichtig, stellt jedoch nur eine der drei Dimensionen einer guten Story dar: die konfliktbasierte. Neben ihr besteht eine gute Story aber noch aus einer thema- und werteorientierten und einer protagonistenzentrierten Dimension. Alle drei im Detail in ein Schaubild zu bringen, ist mir bisher noch nicht gelungen und ich vermute, dass eine solche Visualisierung überhaupt nicht mehr nachvollziehbar wäre. Deshalb kann ich lediglich ein allgemeines Schaubild und für jede Dimension ein detaillierteres liefern.
Ein Unternehmen ist der Erzähler einer Story mit sich selbst als Hauptprotagonist
In deinem Buch finden sich drei Anwendungsfelder für professionelles Storytelling: Politik, Journalismus und Unternehmen. Lass uns über Unternehmensstorytelling sprechen! Wie wendest du professionelles Storytelling in diesem Kontext an?
In Unternehmen lässt sich Professionelles Storytelling auf drei Ebenen anwenden.
Die erste Ebene ist die des Mikro-Storytellings bzw. die des konkreten kommunikativen Aktes. Hier verfügt ein Unternehmen bereits über Inhalte, die nun als Storys erzählt werden sollen. Die zwei zentralen Fragen, um die es hier geht, lauten: Welche Storys lassen sich aus diesen Inhalten entwickeln? Wie lassen sich diese Storys so erzählen, dass sie die Aufmerksamkeit der Menschen wecken, ihr Interesse steigern und ihre Rezeptionsbedürfnisse befriedigen?
Herausragend im Storytelling ist aus Sicht des Professionellen Storytellings der Outdoor-Bekleidungshersteller Patagonia
Die zweite Ebene, die der ersten gewissermaßen zugrunde liegt, ist die der Inhalte. Hier geht es darum, die für ein Unternehmen relevanten Themen zu identifizieren, relevante Botschaften darüber zu formulieren und relevante Inhalte dazu zu entwickeln. Diese Inhalte können, müssen aber nicht auf der ersten Ebene als Storys erzählt werden. Das konkrete Mikro-Storytelling ist also lediglich eine Option.
Die dritte Ebene ist die Unternehmensebene. Hier geht es um das Makro-Storytelling eines Unternehmens, also darum, ein Unternehmen als solches dramaturgisch zu analysieren und weiterzuentwickeln. Auf dieser Ebene findet das statt, was ich als „Storythinking“ bezeichne: das ganzheitliche Denken in dramaturgischen Begriffen, Kategorien und Konzepten. Alles, was ist – jede Situation, jedes Ereignis, jede Entscheidung, jede Handlung, jede Person, jedes Produkt, jedes Unternehmen usw. -, ist eine Story oder ein Element davon, erfüllt eine bestimmte (dramaturgische) Funktion und hat eine bestimmte Bedeutung hinsichtlich seines Kontextes. Diese Storys lassen sich mit den Werkzeugen des Professionellen Storytellings analysieren, verstehen, darstellen und gestalten.
Gewinngenerierung ist das Ergebnis einer erfolgreichen Beziehungsgestaltung mittels gutem Storythinking und -telling
Aus dieser Perspektive betrachtet ist ein Unternehmen der Erzähler einer Story mit sich selbst als Hauptprotagonist. Diese Story ist die Makro-Story eines Unternehmens. Der Ausgangspunkt für ihre Analyse und Entwicklung ist die „narrative Identität“ des Unternehmens: Wer ist das Unternehmen? Warum ist es so geworden? Wie will es in Zukunft sein? Und welche Storys erzählt es darüber oder lassen sich darüber erzählen?
Die „narrative Identität“ eines Unternehmens zu kennen und zu verstehen, ist die Voraussetzung für eine authentische, glaubwürdige und identifikationserzeugende Kommunikation. Aus ihr leiten sich die kognitiven und emotionalen Themen eines Unternehmens ab, die Fragen, auf die es Antworten gibt und die Botschaften, die es über sich selbst, das Menschsein und die Gesellschaft vermittelt. Auf dieser Grundlage lassen sich relevante Inhalte für ein gutes Content Marketing und gute Storys für ein relevantes Storytelling entwickeln.
Das Ziel der Entwicklung der „narrativen Identität“ ist, das Identifikationspotenzial eines Unternehmens zu ermitteln und zu entwickeln. „Identifikation“ ist ein zentrales Konzept der fiktionalen Dramaturgie: Das Publikum soll sich mit der Hauptfigur kognitiv und emotional identifizieren, um Empathie für sie aufzubringen, also zu hoffen, dass sie bekommt, was sie will, zu bangen, dass sie scheitert, sich zu freuen, wenn sie es am Ende schafft und traurig zu sein, wenn sie verliert. Dadurch wird die tiefste und stärkste Bindung zwischen ihm und der Geschichte hergestellt. Denn in einer Identifikationsbeziehung drückt sich das Gefühl von Verständnis und des Gleichseins aus.
Solche stabilen und dauerhaften Identifikationsbeziehungen gilt es auch für ein Unternehmen zu seinen Mitarbeitenden, Zielgruppen, Partnern und sonstigen Stakeholdern herzustellen. Denn wer sich mit einem Unternehmen identifiziert, vertraut ihm, kauft seine Produkte, arbeitet gerne für es und mit ihm zusammen, ist loyal und treu. Aus dieser Perspektive ist deshalb Gewinngenerierung nicht das Ziel unternehmerischen Handelns, sondern das Ergebnis einer erfolgreichen Beziehungsgestaltung mittels gutem Storythinking und -telling.
Professionelles Storytelling ist keine Wunderwaffe, die man einfach per Knopfdruck bedient
Was sind die Faktoren, die zu Identifikationsbeziehungen führen? Wann identifizieren sich Menschen mit einem Unternehmen? Sie identifizieren sich mit ihm, wenn sie verstehen, was ein Unternehmen will; wenn sie nachvollziehen, warum es das will; wenn sie Beides ebenfalls für erstrebenswert und das Unternehmen für glaubwürdig halten. Ist das der Fall, dann machen sie die Storys, die ein Unternehmen darüber erzählt, zu einem positiven Element ihrer Selbst-Erzählungen, also ihrer Storys, die sie sich selbst und anderen über sich erzählen.
Welchen Unternehmen würdest du „professionelles Storytelling“ empfehlen? Welchen nicht?
Prinzipiell ist Storytelling für alle Unternehmen eine interessante Möglichkeit, mit Menschen in Kontakt zu treten und über sich zu kommunizieren. Insbesondere ist es jedoch spannend für Unternehmensgründer und Start Ups, die nach Orientierung und Legitimationsstrukturen suchen. Und für Unternehmen, die auf gesättigten Märkten agieren oder auf Märkten mit austauschbaren Produkten, in denen die Kaufentscheidungen der Menschen nicht mehr auf bestimmten Eigenschaften eines Produkts beruhen, sie also nicht mehr ein Produkt von irgendeinem Unternehmen kaufen, sondern von einem bestimmten Unternehmen und wegen dieses Unternehmens.
Auf solchen Märkten befriedigen Menschen mit ihren Kaufentscheidungen nicht mehr nur ihr unmittelbares Konsumbedürfnis über das Produkt – Outdoor-Sport betreiben beispielsweise -, sondern ein mittelbares Bedürfnis durch das Unternehmen, ihr Bedürfnis nach Identität, Anerkennung und Zugehörigkeit.
Gewinn rechtfertigt unternehmerisches Handeln immer weniger
Nicht empfehlen würde ich es Unternehmen, die jetzt auch ein bisschen Storytelling machen wollen, weil es gerade angesagt ist; die es also nicht ernst meinen damit. Denn Storytelling ist weder eine Wunderwaffe, die man einfach per Knopfdruck bedient, noch ein Allheilmittel, das die Kommunikation verbessert, alleine schon weil man es anwendet. Bei falscher Anwendung und Dosierung kann es sogar ganz schön in die Hose gehen.
Welche Unternehmen sind herausragend im Storytelling, welche haben noch Potenzial? Was ist eine Hero Company?
Herausragend im Storytelling sind aus Sicht des Professionellen Storytellings beispielsweise der Outdoor-Bekleidungshersteller Patagonia, den ich in meinem Buch analysiere, der Schuhproduzent Toms Shoes, das Brillenunternehmen Warby Parker, die Handels- und Speditionsgesellschaft Lenox mit ihrem Kaffee Solino und das „circular economy“-StartUp Grover.
Sie sind hervorragend im Storytelling, weil sie konsequent und ganzheitlich werte- und identitätsorientiert sind. Ihre gesellschaftliche Verantwortung erschöpft sich nicht darin, Arbeitsplätze zu schaffen, Steuern zu bezahlen und die Menschen mit Produkten zu versorgen, in zeitlich befristeten Cause-related-Marketingaktionen oder im Einhalten von fairen, soziale, ökologischen und nachhaltigen Standards.
Vielmehr geht ihre gesellschaftliche Verantwortung über ihre Produkte und sich selbst hinaus, sie steht im Zentrum ihrer Unternehmensidentität und ihres Geschäftsmodells, ihres Denkens, Handelns, Beziehungsgestaltens und Seins und gibt ihnen Orientierung und Legitimation.
Solche Unternehmen sehen ihren Daseinszweck und ihre Existenzberechtigung darin, das Leben der Menschen und das Funktionieren der Gesellschaft zu verbessern. Dadurch werden sie zu Helden im ursprünglichen Sinne der Heldenreise – zu „Hero Companys“ mit hohem Identifikationspotenzial.
In Zukunft werden diejenigen Unternehmen erfolgreicher sein, die sinnvoll handeln und Storys erzählen
Denn wer zum besseren Funktionieren der Gemeinschaft beiträgt, tut etwas Sinnvolles, weil eine besser funktionierende Gemeinschaft auch ihm selbst zugute kommt, die Qualität seines eigenen Lebens erhöht. Genau daraus entsteht Sinn. Solidarisches Handeln ist sinnstiftendes Handeln. Die Story, die damit erzählt wird, ist zugespitzt formuliert die von der „Rettung der Menschheit und der Welt.“ Und wer uns diese Story glaubwürdig erzählt, mit dem identifizieren wir uns am stärksten.
Wer hingegen rein egozentriert handelt, ohne dass die Gemeinschaft etwas davon hat, der mag sich kurzfristig über seine Ausgebufftheit erfreuen, Sinn und dauerhafte Zufriedenheit kann er daraus aber nur bedingt ziehen.
Unternehmen, die in der Gewinnmaximierung ihren alleinigen Zweck sehen, handeln aus dieser Perspektive nicht sinnvoll und können entsprechend keine Storys erzählen, die den Menschen Sinnstrukturen anbieten, in die sie ihre Selbsterzählungen einbetten, mit denen sie sich also identifizieren können.
Welche Unternehmen haben noch Storytelling-Potenzial? Genau solche Unternehmen, deren Hauptstory die von der Gewinnmaximierung ist. Lediglich oder hauptsächlich diese Story zu erzählen, hat zu jener Zeit noch funktioniert, als nur wenige Menschen sich an Joseph Ackermanns Renditeziel von 25% störten: „Seht her, wir haben unseren Gewinn maximiert. Also sind wir ein gutes Unternehmen, das gute Produkte verkauft.“
Heute jedoch leben wir in Zeiten des zunehmenden Glaubwürdigkeitsverlusts: Journalismus, Unternehmen, Werbung, Marketing, Parteien, nationale, europäische und internationale Institutionen, die Banken im Besonderen, die Finanzwirtschaft im Allgemeinen, die Automobilbranche, die FIFA, das IOC usw. – niemandem wird mehr ohne weiteres geglaubt. Überall schlagen Skepsis und Misstrauen entgegen.
Eine bessere Kommunikation, bessere Inhalte und Storys, die mehr Menschen erreichen.
Ruft ein Unternehmen heute lediglich „Wir haben unseren Gewinn maximiert“, staunen die Menschen immer seltener ein „Wow“, sondern fragen sich: „Ist das alles mit rechten Dingen zugegangen? Wurde jemandem Schaden zugefügt? Geht der Gewinn auf Kosten der Umwelt? Verdankt er sich einer ‚intelligenten‘ Steuervermeidung?“ Gewinn rechtfertigt unternehmerisches Handeln immer weniger. Er verliert zusehends seine Legitimationskraft.
Das heißt nicht, dass „Hero Companys“ keinen Gewinn machen wollen. Im Gegenteil, denn je mehr Gewinn sie machen, desto mehr können sie für die Gemeinschaft tun und umso besser können sie ihren Daseinszweck erfüllen. Gewinn ist also nicht ihr letzter Zweck, sondern ein notwendiges Mittel.
Aus Sicht des Professionellen Storytellings lässt sich aus diesen Überlegungen der Schluss ziehen, dass in Zukunft diejenigen Unternehmen erfolgreicher sein werden, die sinnvoll handeln, entsprechend Storys erzählen, die Sinnstrukturen anbieten, damit in Zeiten eines wachsenden Sinndefizits das größer werdende Bedürfnis nach Sinnstiftung befriedigen und auf diese Weise einen sinnstiftenden Konsum ermöglichen.
Was gewinne ich, wenn ich als Unternehmen professionelles Storytelling verwende? Wie lässt sich der Erfolg messen? Gibt es auch Risiken?
Was ein Unternehmen hauptsächlich davon hat, wenn es mit Professionellem Storytelling arbeitet, geht hoffentlich aus den bisherigen Antworten hervor. Zusammengefasst: eine bessere Kommunikation, also bessere Inhalte und Storys, die mehr Menschen besser erreichen, Orientierung, Legitimation, Glaubwürdigkeit, Vertrauen, Identität und Identifikationsbeziehungen. Der Rest – mehr Umsatz und Gewinn etc. – ist eine logische Konsequenz daraus.
Es gibt kein Erfolgsrezept im Storytelling
Gibt es eine Garantie dafür? Natürlich nicht. Lässt sich ein erfolgreiches Storytelling messen? Prinzipiell schon. Unternehmerischer Erfolg lässt sich immer in Zahlen messen, in Zeit- und Geldeinheiten, in der Anzahl der Arbeitsplätze etc. Bei den Gründen für diesen Erfolg ist das jedoch nicht mehr so leicht, insbesondere, wenn es sich um die Qualität von Inhalten und Storys handelt. Das würde nur funktionieren, wenn sich Erfolg monokausal auf eine bestimmte Ursache zurückführen ließe. Die Faktoren, die Erfolg bedingen, sind jedoch zu vielfältig, zu unterschiedlich und zu komplex.
Natürlich lassen sich verschiedene KPIs ermitteln, lässt sich messen, ob die eine oder die andere Story mehr Klicks, Likes, Shares, Newsletterbestellungen etc. erzielt hat, ob die eine oder die andere zu mehr Traffic, Page Impressions, positiven Kommentaren und Interaktionen mit den Rezipientinnen und Rezipienten geführt hat, zu mehr Leads und einer höheren Konversionsrate.
Aber warum hat sie das? Das ist die entscheidende Frage. Und die Antwort auf sie lässt sich leider nicht in Zahlen messen und ausdrücken. Wir sollten uns also von dem Glauben verabschieden, dass wir aus quantitativen Messgrößen zuverlässige und belastbare Rückschlüsse auf inhaltliche Qualität ziehen können. Was wir gewinnen können, sind bloße Anhaltspunkte. Es gibt kein Erfolgsrezept im Storytelling.
Wie wird ein Unternehmen ein erfolgreicher Storyteller? Wie kann ich mir den Prozess vorstellen? Was sind die Stolpersteine?
Wie ein Unternehmen ein erfolgreicher Storyteller wird, hängt davon ab, auf welcher der drei oben genannten Ebenen es Storytelling einsetzt. Auf der ersten Ebene, auf der es um die Gestaltung von Inhalten in Form von Storys geht, wird es ein erfolgreicher Storyteller, wenn es – vereinfacht ausgedrückt – gute Storys gut erzählt, wobei „gut“ meint, dass die Storys und ihre Erzählungen Aufmerksamkeit wecken, Interesse steigern und Rezeptionsbedürfnisse befriedigen.
Die dramaturgische Betrachtung eines Unternehmens kommt einem Kulturwandel gleich
In seiner einfachsten Form sieht der Prozess hier so aus, dass ein Unternehmen seine Inhalte an eine spezialisierte Agentur gibt, die daraus gute Storys und gute Erzählungen macht und im Idealfall noch eine gute Kommunikationsstrategie mitliefert. Soll der Prozess im Unternehmen realisiert werden, muss Storytelling an den entsprechenden Stellen implementiert und dafür die Unternehmensstruktur weiterentwickelt werden. Das gilt auch für die zweite Ebene, auf der es darum geht, relevante Themen zu identifizieren, relevante Botschaften zu formulieren und relevante Inhalte zu entwickeln.
Aufwändiger wird es auf der dritten Ebene, auf der es um die Analyse und Entwicklung der Identität eines Unternehmens geht. Hier reicht es nicht aus, auf externe Kompetenzen zurückzugreifen. Vielmehr setzt eine erfolgreiche Anwendung von Storytelling auf der Ebene der Unternehmensidentität eine bestimmte Haltung, eine bestimmte Sicht auf die Welt und auf Unternehmen, kurz: eine bestimmte Denkweise voraus, die das gesamte Unternehmen prägt.
Es ist sicher nicht zu hoch gegriffen, zu behaupten, dass die dramaturgische Betrachtung eines Unternehmens als Erzähler einer Story mit sich selbst als Hauptprotagonist einem Kulturwandel gleichkommt. Und wie bei jeder Transformation, so kann auch diese nur dann erfolgreich sein, wenn sie konsequent, ausdauernd und ganzheitlich verfolgt, gestaltet und gelebt wird.
Wie hängen in deinem Modell Storytelling und Strategie zusammen?
Kurz gesagt: Professionelles Storytelling liefert die inhaltliche Basis einer Kommunikationsstrategie. Es geht um die Fragen: Was sind unsere Werte, Themen, Botschaften, Inhalte und Storys? Zu den Fragen nach dem optimalen Timing der konkreten kommunikativen Akte, den benötigten und vorhandenen Ressourcen, der Definition von Kommunikationszielen, nach den Medien und Kanälen, Erfolgsmessungen und Strategieanpassungen etc. gibt es keine Antworten. Professionelles Storytelling denkt also inhaltlich strategisch, nicht kommunikativ strategisch.
Show, don’t tell. Handlungen lügen nicht
Du gehst noch auf zwei Methoden ein, Storydoing und Storyscaping, die ich sehr spannend fand. Wem nützen sie? Wann würdest du diese Methoden einsetzen?
Das einfache Storytelling, in dem es darum geht, konkrete Storys zu erzählen, ist schön, macht aber viel Arbeit und hat Nachteile: In einer Zeit, in der alle Menschen zu Sendern werden, wir immer leichteren Zugang zu immer mehr Informationen und Wissen haben und zusehends mit Inhalten überflutet werden, ist es schwer, mit dieser Anwendung von Storytelling die Menschen zu erreichen und die beabsichtigten Effekte zu erzielen. Es ist aufwändiger geworden, weil man bei den meisten Inhalten und Storys die Menschen erst einmal darauf aufmerksam machen muss, dass es sie überhaupt gibt.
Vor allem aber kann es alleine nur in begrenztem Maße Authentizität, Glaubwürdigkeit und Vertrauen erzeugen – die Voraussetzungen für das Zustandekommen von Identifikationsbeziehungen. Denn es stellt letzten Endes lediglich Behauptungen auf, beweist aber nur bedingt die Makro-Story eines Unternehmens. Um glaubwürdig zu sein und Vertrauen aufzubauen, muss ein Unternehmen also so agieren, dass die Menschen seine Makro-Story für authentisch halten.
In der fiktionalen Dramaturgie gibt es eine Reihe von „Goldenen Regeln“. Eine davon lautet: „Show, don´t tell“. Gemeint ist damit, dass Autorinnen und Autoren ihre Figuren beispielsweise nicht behaupten lassen sollen, wie es ihnen geht, sondern es zeigen müssen, also ihre Gefühle über ihre Handlungen erzählen sollen, damit sie glaubwürdig und nachvollziehbar sind. Denn das Gesagte kann gelogen sein. Handlungen lügen nicht.
Tue Gutes und lass andere darüber reden
Glaubwürdigkeit ist ein generativer Wert – „generativ“, weil ein Unternehmen einiges dafür tun muss, um ihn aufzubauen, ihn zu generieren. Storydoing und Storyscaping sind zwei Methoden dafür. Denn sie behaupten die Makro-Story und die Botschaften eines Unternehmens nicht, sondern beweisen sie durch Handlung. Mit anderen Worten: Storydoing und -scaping erzählen keine Storys, sondern „machen“ Storys.
Der Vorteil ist nicht nur ein Glaubwürdigkeits-, sondern auch ein Aufmerksamkeitsgewinn. Denn gute Storydoing und -scaping-Maßnahmen erzielen eine hohe Medienbeachtung und Mund-zu-Mund-Propaganda. Ein Unternehmen initiiert also eine Story oder ein Element davon und lässt sie von anderen (weiter)erzählen: Tue Gutes und lass andere darüber reden.
Patagonia vermittelt beispielsweise die Botschaft, dass es als Outdoor-Bekleidungshersteller die Natur liebt und es deshalb nicht nur die Natur schützt, sondern auch die Menschen, Unternehmen und die Politik auffordert, sich ebenfalls für die Lösung der Umweltkrise einzusetzen. Wenn es nun eine Story erzählt, beispielsweise als Reportage oder Dokumentarfilm, in der Umweltaktivisten den Bau eines Staudamms verhindern, um natürliche Landschaften und Lebensraum von Tieren zu erhalten, dann betreibt es klassisches Storytelling.
Wenn es die Botschaft vermittelt, dass unsere Art zu produzieren und zu konsumieren die Hauptursache der Umweltzerstörung ist, und es am Black Friday, also ausgerechnet an jenem Tag, an dem in den USA die Weihnachsteinkäufe starten, eine ganzseitige Anzeige in der New York Times schaltet, in der es die Menschen dazu auffordert, weniger zu konsumieren, dann betreibt es Storydoing (mit sich selbst als Hauptprotagonist der Story, die von dieser Anzeige transportiert wird). Damit beweist es, dass es Umweltschutz ernst meint und erhält Glaubwürdigkeit.
Gute Storydoing und -scaping-Maßnahmen erzielen eine hohe Mund-zu-Mund-Propaganda
Wenn es die Botschaft vermittelt, dass wir nicht nur weniger konsumieren, sondern das, was wir besitzen, auch länger nutzen, reparieren oder recyceln lassen sollen, und es deshalb mit einem biodieselbetriebenen Werkstatt-Truck durch die USA fährt und mit solarbetriebenen Nähmaschinen defekte Patagonia-Kleidung kostenlos repariert, dann betreibt es Storyscaping (tritt also als Mentor auf, der eine Hauptprotagonistin oder einen Hauptprotagonisten in deren Story dabei unterstützt, einen Konflikt zu lösen). Auch hiermit bewiest es seine Werteorientierung und wird glaubwürdig.
Von einer weiteren schönen Storydoing-Aktion habe ich heute (14. Mai 2018) gelesen: Der Lebensmittel-Discounter Penny hat in einer Filiale in Hannover alle Lebensmittel aus den Regalen räumen lassen, die es nicht mehr geben wird, wenn die Bienen aussterben. Die Regale waren ungefähr zur Hälfte leer. Damit wollte das Unternehmen das Thema Bienensterben ins Bewusstsein der Menschen bringen.
Diese Story zu erzählen, ist wichtig. Allerdings generiert diese Aktion zwar Aufmerksamkeit für Penny, aber noch keine Glaubwürdigkeit. Der Grund dafür ist, dass die Story nichts mit der „narrativen Identität“ von Penny zu tun hat und sich nicht aus seiner Makro-Story ableitet (zumindest ist mir bisher noch nicht aufgefallen, dass sich Penny für den Schutz von Bienen eingesetzt hätte).
Aber vielleicht ist es ja der Beginn einer Weiterentwicklung der narrativen Identität von Penny, indem sich das Unternehmen konsequent und dauerhaft mit Storydoing-Aktionen für das Überleben der Bienen engagiert und seine Identität als Bienenschützer beweist.