Das Publikum kennen – diese Storytelling-Maxime leuchtet zwar sofort ein, wird aber gern übergangen. Dagegen hilft bei mir am besten eine Story, die von der runden Ecke. Diese Story hat mehr Kraft, als all meine Regeln, an einem kleinen Beispiel zeigt sie, was passiert, wenn man ein falsches oder gar kein Bild vom Publikum hat.
Ein Professor erzählt die Story von der runden Ecke jedes Jahr seinen neuen Studenten. Als Lehrstück. Sie handelt von einer Gruppe Studenten mit einem Rechercheprojekt. Die Aufgabenstellung: Wie sich der Beratungsprozess innerhalb der Jury verbessern lässt.
Die Studenten treffen sich mit Richtern und Anwälten, stellen alle möglichen Fragen, die auch wir vermutlich gestellt hätten: Wie lange haben die Prozesse gedauert? Was waren die Themen? Bis hin zu: Was für Essen hat man euch im Zimmer für die Jury serviert? Oder: Wie lange musstet ihr arbeiten? Sie wollen einfach alles wissen.
Am Ende ihrer Recherche kommen sie zu dem Schluss, dass all das gar keine Rolle spielt. Die einzige Sache, die wirklich wichtig schien, war die Form der Tische im Raum der Jury.
In den Jury-Räumen mit rechteckigem Tisch passierte Folgendes: Die Person, die an der Stirnseite des Tisches saß, dominierte das Gespräch. Ganz gleich, wie bedeutend oder kompetent diese Person auch war. Das wirkte sich nach Meinung der Studenten negativ auf die Qualität der Urteile aus. In den Jury-Räumen mit rundem Tisch dagegen gab es ausgewogenere Diskussionen und mehr Fairness in den Urteilen. So legte es die Auswertung der Studenten nahe.
Gehe nicht davon aus, dass die Bilder im Kopf deines Publikums mit denen in deinem Kopf übereinstimmen
Am Ende des Semesters präsentieren die Studenten ihre Erkenntnisse dem obersten Richter und plädieren dafür, die eckigen durch runde Tische zu ersetzen. Der Richter ist begeistert von den Erkenntnissen und der Story, die die Studenten erzählen. Doch er kommt zu einem anderen Schluss: Weg mit den runden Tischen! Her mit den rechteckigen!
Unglaublich, schimpfen die Studenten. Wie kann das sein?
Die Erklärung ist einfach, ein Unterschied in der Definition von „besserer Prozess“. Während sie unter einem besseren Prozess vor allem einen fairen Prozess verstanden, verstand der Richter darunter einen schnellen Prozess.
Die kleine Geschichte hat viele Facetten und erlaubt spannende Auslegungen. Fürs Storytelling geht es vor allem uns eins: Das Publikum kennen – und zwar so genau wie möglich. Wenn es dir sagt, was es wünscht, frage trotzdem besser so genau wie möglich nach und gehe nicht davon aus, dass das Bild im Kopf des Publikums mit dem in deinen Kopf übereinstimmt. Das ist die größte Falle, in die wir immer wieder gern reintappen.