Hat Storytelling eine dunkle Seite, was ist die Gefahr von Storytelling? Dazu gibt es viele Ansätze, der spannendste kommt meiner Meinung nach von Nobelpreisträger Daniel Kahneman, selbst ein Meister des Storytellings. Bestimmt kennen Sie sein großartiges Buch Schnelles Denken, langsames Denken. Achtung, sagt Kahneman: Das Gehirn liebt Storys! Es liebt sie zu sehr.

Sein Buch erklärt mit vielen wunderbaren Geschichten, wie wir Entscheidungen oder Urteile fällen. Dabei betont der Psychologe einen ganz besonderen Aspekt von Storytelling: die Vereinfachung, die unser Gehirn vornimmt, wenn es automatisch zu einer Story greift.

Ein Schritt zurück. In Kahnemans Modell gibt es zwei Denkmodi, er nennt sie System 1 und System 2. Hier seine Beschreibung: „System 1 arbeitet automatisch und schnell, weitgehend mühelos und ohne willentliche Steuerung. System 2 lenkt die Aufmerksamkeit auf die anstrengenden mentalen Aktivitäten, die auf sie angewiesen sind, darunter auch komplexe Berechnungen. Die Operationen von System 2 gehen oftmals mit dem subjektiven Erleben von Handlungsmacht, Entscheidungsfreiheit und Konzentration einher.“

Schlange oder Seil? Noch nie lag eine Schlange dort

Kahneman erläutert, dass viele Urteile oder Entscheidungen gar nicht in System 2 zu Hause sind, auch wenn wir das, insbesondere als rationale Menschen gern glauben wollen, sondern in System 1. Sie werden spontan erzeugt. Intuitiv. Und das Muster, dem sie folgen, ist die Story. Und genau darin liegt die Gefahr von Storytelling.

Wir konstruieren die bestmögliche Geschichte aus den vorhandenen Daten oder Fakten. Bestmöglich heißt: Die Geschichte muss kohärent sein. Enthält sie dagegen Widersprüche, wirkt sich das negativ auf die Leichtigkeit unseres Denkens und die Klarheit unserer Gefühle aus. Menge und Qualität der Daten, auf denen Geschichten beruhen, ist dagegen sekundär.

Für das Überleben erwies sich nach Kahneman System 1 als fundamental – ein Seil von einer Schlange unterscheiden, einen freundlichen von einem aggressiven Gesichtsausdruck, eine Flucht von einer Angriffssituation, das brauchte zügige Entscheidungen. System 1 trifft aufgrund der vorliegenden Daten und Erfahrungen die bestmögliche Entscheidung. Es zwingt sich nicht in die Außenperspektive, sucht weitere Alternativen, rechnet statistische Daten durch, schaut sich die Kohorte der Akteure an. Macht das alles nicht. In System 1 herrscht die Story.

Radikal vereinfachen – das ist die Gefahr von Storytelling

Es formt aus den vorliegenden Fakten die bestmögliche Geschichte. Was uns überzeugt, ist ihre Konsistenz, also ihre Widerspruchsfreiheit. Seil oder Schlange? Flucht oder Entspannung. System 1 verbindet vorliegende Daten mit Erfahrungen und bekannten Mustern und entscheidet aufgrund einer vereinfachten Geschichte. Die Story, die wir uns erzählen, entscheidet. Allein die.

Etwa so: Ich muss dringend in das andere Dorf. Auf dem Weg liegt etwas, es sieht aus wie ein Seil. Oder eine Schlange. Schon öfter lag dort ein Seil, weil mein Bruder es dort vergessen hat. Auch wenn das Seil heute anders aussieht, irgendwie heller, spricht das nicht dagegen. Die Sonne ist eben gerade so hell. Noch nie lag eine Schlange dort. System 1 entscheidet, an dem Seil vorbeizugehen.

War es doch eine Schlange? Das hätte ganz sicher Einfluss auf die Heuristik beim nächsten Mal – wenn die Schlange ein nächstes Mal zulässt.

System 2 würde alles verlangsamen. Vielleicht experimentieren, einen Stock oder einen Stein auf die vermeintliche Schlange werfen und gucken, ob sie reagiert. Vielleicht würde es auch alternative Wege erwägen oder sich fragen, ob mein Besuch im anderen Dorf wirklich so wichtig ist. Jemanden holen, der mir bei der Beantwortung der Frage hilft. Es würde am Ende helfen, eine bessere Entscheidung zu treffen, doch auf Kosten der Einfachheit und des Schnelligkeit.

Ist eine Story gut, dann hält sie es auch aus, wenn kräftig dagegen getreten wird

Radikal vereinfachen – das ist die Gefahr von Storytelling. Finden Sie Beispiele dafür aus Ihrem Alltag? Mir kam es sehr bekannt vor, als ich mich das erste Mal mit Kahneman beschäftigte. Intuition fühlt sich großartig an, und ich fällte auf dieser Basis auch einige hervorragende Entscheidungen. Auf der anderen Seite hat die Intuition auch reife Entscheidungen verhindert.

Die Lektion aus Kahnemans Erkenntnissen zur Gefahr von Storytelling: Vereinfachungen reflektieren, wenn wir Entscheidungen oder Urteile fällen. Ist eine Story gut, dann hält sie es auch aus, wenn kräftig dagegen getreten wird.