Narrative Ökonomie nennt Nobelpreisträger Robert J. Shiller seinen Ansatz, wirtschaftliche Entwicklungen auch als Folge von Storytelling zu betrachten. Ein brisantes Thema in unserer Zeit. Die Boom-Story, die Trump anhaftet. Und jetzt die Story vom Corona-Clown. Aus Fakten und Emotionen werden Erzählungen gesponnen mit großem Einfluss auf Märkte und unser aller Wohlergehen. Viel größer, als wir vielleicht glauben.

Woran erkennt man eine wirtschaftliche Krise? Daran, dass die Leute kein Geld mehr ausgeben, sagt Shiller, dessen Buch Narrative Wirtschaft gerade in Deutschland erschienen ist (alternativ zum Buch empfehle ich den Aufsatz Narrative Economics von 2017, er ist knapper, aber auch streckenweise zäh zu lesen). Doch wie kommt es dazu, dass die Menschen kein Geld mehr ausgeben?

Ein Beispiel, das 100 Jahre alt ist und doch aktueller als alle anderen: die Rezession in den USA von 1920/21. Was brachte die Amerikaner dazu, in dieser Epoche, die schließlich am Ende des Jahrzehnts nach einem Tanz auf dem Vulkan zum großen Crash führte, kein Geld mehr auszugeben?

Shiller findet im Rahmen seiner narrativen Ökonomie eine Reihe von Storys, die sich überlagern und zu einer krisenhaften Stimmungslage führen.

Die Rezession als Folge eines Boykotts durch Storys existentiell verunsicherter Consumer

  1. Der Erste Weltkrieg, der gerade erst vorbei war. Jeder Amerikaner hat eine Ahnung, wie sich schlechte Zeiten anfühlen, auch wenn der Krieg gar nicht auf amerikanischem Boden stattgefunden hat. Folge: Existentielle Unsicherheit.
  2. Die Spanische Grippe, die mit mehr als 50 Millionen Toten ein Vielfaches der Opfer des Ersten Weltkriegs forderte. Sie begann während des Krieges und war während der Rezession noch nicht vorbei. Folge: Todesangst.
  3. Der Kommunismus als Gefahr, die der USA auf ihrem eigenen Boden drohe. Konnten die Schriften von Marx und Engels aus dem vorangegangenem Jahrhundert noch ignoriert werden, die Ermordung der Zarenfamilie durch die Kommunisten sorgt für Angst. Folge: Angst vor einer Revolution.
  4. Der drastische Anstieg der Ölpreise und die damit verbundene Angst, Verbrennungsmotoren könnten die Ölreserven verbrauchen. Folge: Angst vor steigenden Preisen.
  5. Die Story, dass der Consumer-Preisindex wieder auf Vorkriegsniveau fallen würde, hielt viele ganz konkret davon ab, zu kaufen. Die Schuld am Anstieg der Preise wurde den Kriegsprofiteuren zugesprochen. Folge: Hoffnung auf fallende Preise.

Kurzum: Die Rezession in den USA von 1920/21 ist für Shiller ein Boykott existentiell verunsicherter und ängstlicher Konsumenten, die ihr Geld nicht Profiteuren in den Rachen werden wollten.

Ließ sich auf Basis der narrativen Ökonomie bislang etwas vorhersehen, etwa mit Hilfe mit Google-Analysen? Noch nicht. Aber genau darin besteht die Hoffnung von Shiller, eine Art Frühwarnsystem zu schaffen, das Politikern, Investoren, Managern und Unternehmern hilft, rechtzeitig auf wirtschaftliche Entwicklungen zu reagieren, die sich aus den viralen Storys und Keywords ablesen lassen.

Wie sieht es bei Corona aus? Auch hier kommt die narrative Ökonomie erst wieder ins Spiel, nachdem die Krise ausgebrochen ist. Shiller sagt, „dass wir mit Sicherheit eine weltweite Rezession bekommen werden.“ Das hat er auch schon vor Corona gesagt. Seine Prognosen waren bisher immer negativer Natur, wenn auch bei der Dotcom-Bubble und beim 2008er Banken-Crash zutreffend.

Was lerne ich aus diesem Ansatz für mein Business?

Es geht darum, nicht nur die Fakten, sondern auch die Storys zu analysieren, die ein Thema prägen, um ein Gefühl für die Stimmungen, die Emotionen zu bekommen. Und die Bedeutung dieser Storys für die Entscheidungen von Menschen nicht zu unterschätzen, auch und vor allem in vermeintlich rationalen Umfeldern.

Für jede Form von strategischer Planung sollte es Standard sein, das Story-Umfeld einzubeziehen. Die Perspektive eines Historikers einzunehmen, der aus der Zukunft auf unsere Zeit blickt und versucht zu verstehen, warum sich die Dinge so entwickelt haben, wie sie sich entwickelt haben. Und wie sich die Linien verlängern lassen.