Je größer das Chaos, desto mehr suchen wir die Worte, das Storytelling, den Austausch. Und vergessen dabei die Kraft der Stille. Ein Versuch über den Wert des Schweigens in Zeiten der Krise als ein Weg, uns im Home Office und in der sozialen Distanz nicht auch noch von uns selbst zu isolieren.

Im Februar traf ich mich mit einem Freund in Saigon. Es war der Ausgangspunkt einer Reise durch Vietnam. Saigon ist eine laute Stadt. Das liegt vor allem an den vielen Motorrollern und ihrem ständigen Hupen.

Das Chaos ist die Gischt, die Stille ist der Ozean

Nur so aber funktioniert der Verkehrsfluss. Das Hupen ist in Saigon ein fortlaufendes Gespräch, und was von außen wie Chaos wirken mag, dessen Gelingen hängt von diesem Gespräch der Fahrer ab, in das auch Fußgänger und streunende Tiere einbezogen werden, die die Straße überqueren.

Ich bin sicher, würden von einem Moment auf den anderen die Hupen ausfallen, würde der Verkehr in Saigon zusammenbrechen. In einer Umgebung, die sich viel weniger auf Regeln und Schilder und Bußgelder verlässt als Europa, hätte die Stille fatale Folgen.

Stille ist mehr als die Abwesenheit von Lärm

Die Welt in Zeiten des Coronavirus erscheint mir wie der Verkehr in Vietnam. Es wird verdammt viel gehupt. Nur sind wir es nicht gewohnt, uns in einem Hupkonzert zu orientieren. Das lernen wir gerade erst.

Wir filtern aus der Masse der Beiträge in den klassischen und sozialen Medien die Fakten heraus, die uns, unseren Liebsten und unserer Community wirklich nützen. Und lernen im Zeitraffer, wie wir das Chaos, das Corona anrichtet, so gut wie möglich managen.

Das Chaos im Kopf ist schwer zu bändigen

Zum Glück hat die Regierung mit etwas Verzögerung kapiert, dass Führung Kommunikation ist. Dennoch: Das Hupkonzert hält an. Jeder hat etwas zu sagen, zu meinen, zu fühlen, zu glauben, zu bekennen, zu schimpfen.

Chaos im Kopf ist schwer zu bändigen. Zu Hause bleiben – ja! Soziale Distanz, körperlich – unbedingt! Aber was macht man zu Hause? Home Office? Hysterisch werden? Oder zynisch? Gelangweilt und doch irgendwie gestresst? Contagion schauen und sich am Leid der Anderen weiden? Auf die neuesten Zahlen von Infizierten und Opfern starren wie das Kaninchen auf die Schlange? Um die eigene Existenz fürchten? Oder denken: So schlimm nun doch nicht?

Wir gehen auf unsere Balkone, singen und klatschen für die, die anderen helfen. Das ist großartig.

Entscheidend für das Gelingen im Kampf gegen das Chaos ist meines Erachtens auch die Rückkehr in die Stille. Das Schweigen. Stille ist mehr als die Abwesenheit von Lärm, von Chaos. Drei Beispiele:

Der Wert des Schweigens, das Raum schafft

Der Jazzmusiker Miles Davis war ein Meister der Pause. Statt so viele Noten wie möglich zu spielen, nahm er einfach die Trompete vom Mund und ließ die Musik im Hintergrund weiterlaufen. „The space between the notes is just as important as the notes.“ Noch pointierter sagt es der Komponist Claude Debussy: „Musik ist die Stille zwischen den Noten.“

Wenn wir Stille hinzufügen, wird es viel leichter, der Musik des Chaos zu lauschen und sie zu verstehen. Redepausen. Lesepausen. Hörpausen. TV-Pausen. Netflix-Pausen.

Der Wert des Schweigens, das mit Menschen verbindet

Es ist dieses wunderbare Schweigen zwischen zwei oder mehr Menschen, die sich auch ohne Worte verstehen. Eine reine Privatsache, reserviert für Freundschaft oder eine glückliche Beziehung? Ich glaube nicht. Ich habe es bei mir und anderen im Arbeitsleben öfter beobachten können. Auch über große Distanzen. Jeder weiß, was zu tun ist. Alles ist im Flow. Wozu reden?

Wenn wir mit anderen machen, statt zu debattieren, entscheiden statt zu zappeln, wird sich Schweigen einstellen und damit auch Flow – und das Chaos wird so aus dem eigenen Kopf vertrieben.

Der Wert des Schweigens, das mit der Welt verbindet

Buddha verglich einmal die Stille, die in Momenten der Einkehr und Meditation entsteht, mit einem Ozean. Das Chaos macht uns blind. Wir sehen die Wellen, die Gischt, die Gefahr und übersehen dabei, dass der Ozean riesig ist und still und weit.

Wenn wir uns der großen Stille bewusst werden, auf der alles ruht, spüren wir für die Dauer einer Meditation, wie das Chaos und die Krise ganz klein werden.

Keine Story, keine News, kein Geplapper – einfach mal den Mund halten

Um im Chaos stark zu sein, brauchen wir Momente der Stille und des Schweigens. Keine Storys, keine News, kein Geplapper, keine Projektionen, keine Dystopien, sondern einfach mal den Mund halten, die Augen schließen und bei sich sein. Sei es nur für wenige Minuten am Tag.

Es scheint mir eine gute Übung im Rahmen der sozialen Distanzierung, ein guter Weg, darauf zu achten, dass wir uns nicht von uns selbst isolieren. Denn das ist meiner Meinung nach die Voraussetzung dafür, dass wir mit anderen verbunden bleiben, auch in der Isolation.