Geschichte statt Formel: In der Wissenschaft ist Storytelling zur Verdeutlichung komplexer Sachverhalte immer häufiger das Mittel der Wahl. Storys übersetzen abstrakte Probleme in beispielhafte Handlungen. Dieses Konzept lässt sich großartig für alle Bereiche des Lebens umsetzten. So geht’s.

Schrödingers Katze. Der Turing-Test. Das chinesische Zimmer. Die Liste der Storys in der Wissenschaft ist lang. Schauen wir uns mal die Geschichte vom chinesischen Zimmer an, die einen der strittigen Punkte in der Entwicklung der künstlichen Intelligenz beleuchtet. Mit dieser Story schildert der Philosoph John Searle im Jahr 1980 ein Gedankenexperiment, das bis heute nichts von seiner Faszination verloren hat.

Die Ausgangsfrage lautet, so einfach wie möglich formuliert: Lassen sich mit Computern Geist (Software) und Gehirn (Hardware) nachbauen? Searle sagt: auf keinen Fall! Der Geist lässt sich nicht als Software nachbilden und das Gehirn nicht als Hardware. Sie merken schon, kein ganz triviales Thema, daher die Story.

Die Story vom chinesischen Zimmer

Da ist ein Raum, darin sitzt eine Person, abgeschirmt von der Umwelt. Der Raum hat zwei Briefschlitze, einen für eingehende Post, einen für ausgehende. Die Person sitzt an einem Schreibtisch und ihre Aufgabe besteht darin, auf  eingehende Fragen zu antworten. Die Fragen kommen von einem Chinesen.

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Die Person im Raum spricht aber kein Chinesisch. Doch sie besitzt eine Reihe chinesischer Schriftzeichen wie Buchstaben in einem Scrabble-Spiel sowie in Handbuch, in dem die Fragen enthalten sind, sie muss sie nur finden, indem sie die Schriftzeichen vergleicht. In diesem Handbuch findet sie auch die Zeichenfolge, mit der sie antworten muss.

Die Person sucht aus den losen Schriftzeichen die richtigen Zeichen, stellt sie zusammen und lässt sie durch den Ausgangsschlitz fallen. Der Chinese liest sie und formuliert eine neue Frage. So geht es weiter.

Bei diesem Ablauf würde der Chinese sagen: Die Person in dem Raum beherrscht die chinesische Sprache sehr gut. Die Person im Raum würde widersprechen: Ich verstehe nichts. Ich müsste, um das zu tun, was ich tue, nicht einmal wissen, dass es sich um chinesische Schriftzeichen handelt.

Konnten Sie folgen? Wahrscheinlich deutlich besser, als wenn das Problem in abstrakter, philosophischer Sprache beschrieben worden wäre.

Was lässt sich von Storys in der Wissenschaft lernen?

  1. Eine Geschichte, so einfach sie zunächst klingen mag, eignet sich sehr gut, um komplexe Sachverhalte zu transportieren. Entscheidend ist, dass jeder sofort ein Bild vor Augen hat und auch dem Ablauf folgen kann. Die Zuhörer verstehen bis heute, dass das chinesische Zimmer der Computer ist, obwohl wir uns von Briefschlitzen bei der Eingabe von Daten weit entfernt haben. Generell gilt: Eine Geschichte erweitert den Kreis der Personen, die einem beliebig komplexen Thema folgen können, immens.
  2. Eine Geschichte eignet sich, um eine gedankliche Position zu verdeutlichen (die Person im Raum ist nicht intelligent). Im chinesischen Zimmer kann sich jeder sofort an die Stelle der Hauptfigur versetzen und sich gut vorstellen, dass die Intelligenz bei dieser Aufgabe weniger im inhaltlichen Verstehen liegt als vielmehr im Befolgen von Regeln und im Vergleichen von Mustern. Das ist Searles Standpunkt.
  3. Eine Geschichte eignet sich, um Gegenpositionen zu verdeutlichen (die Person sei Teil eines Systems und das System verstehe Chinesisch) und darauf zu erwidern (die Person könne das Regelbuch und die Zeichen sogar auswendig Kopf haben und würde nichts verstehen, weil sie den Inhalt nicht verstehe). Ist eine Geschichte erst einmal gesetzt, kann niemand hinter sie zurück. Es geht vielmehr darum, was an der Geschichte vielleicht falsch ist, wie sie anders erzählt werden müsste etc. So bleibt die Diskussion nachvollziehbar.
  4. Eine Geschichte belebt ein Thema und sorgt dafür, dass es in Erinnerung bleibt. Bis heute wird das chinesische Zimmer immer wieder zitiert, während abstrakte Aussagen des Philosophen Searle weniger bekannt sind. So geht es in der ganzen Debatte um künstliche Intelligenz. Die Geschichten bleiben.
  5. Eine Geschichte stellt Augenhöhe her. Wer eine Geschichte findet, um das zu verdeutlichen, was er sonst nur abstrakt sagen würde, gibt damit auch zu verstehen, dass er Nähe sucht. Er betrachtet das Thema aus Sicht der Zuhörer. Das ist der entscheidende Punkt, um Menschen zu überzeugen oder um Diskussionen anzuregen, so wie es John Searle mit dem chinesischen Zimmer gemacht hat.