Sie schreibt Bestseller wie Die Fleißlüge, sie ist eine begehrte Rednerin und sie coacht Executives: Ein Interview mit Professor Dr. Brigitte Witzer über die Verknüpfung von Coaching und Storytelling.

Auf deiner Homepage schreibst du: Be the best fitting version of yourself! Auch als Story?

Es geht für mich immer wieder darum, die eigene Biografie aus der jeweiligen Lebensphase oder Lebenslage heraus neu zu verstehen – ich schreibe meine Geschichte immer wieder neu, auch mit Blick „nach hinten“, in die Vergangenheit.

Ein Beispiel: Wer sich überraschend als betrogener Gatte wiederfindet und dabei steif und fest annahm, er wäre glücklich in einer never-ending Beziehung, der braucht seine Zeit, bis ihm klar ist: Das war eine Illusion! Mit Abstand und solider Verarbeitung von Situation und Gefühlen kann dieser Mann seine Geschichte neu denken und sie so schreiben, dass die Qualitäten der Ent-täuschung in den Vordergrund rücken – also etwa das Gefühl des Aufwachens, das Ende der jugendlichen Naivität, gewachsene Ernsthaftigkeit, reifere Wünsche für zukünftige Beziehungen usw. Die Geschichte des Wachsens zeigt die Versöhnung mit dem Schicksal und den Aufbruch zu neuen Ufern nach einer Phase des Haderns, des Wütens, der Trauer.

Mir geht es mit „the best version“ nicht um den Menschen, der die beste Leistung bringt, sondern um den, der am besten zu sich selbst passt, der sich kongruent fühlt mit dem, wie er sich sieht und was er anderen von sich zeigt.

Du sagst: Wir haben die Hoheit unsere eigene Geschichte zu erzählen? Was bedeutet das?

Wir selbst sind der echte Dreh- und Angelpunkt für unsere eigene Geschichte: Was haben wir verstanden? Wie verändert sich durch Reife, durch Entwicklung die Sicht auf unsere Geschichte? Wir selbst sind diejenigen, die Erfolg und Lernen definieren, die unser Leben wenden, verändern können. Ich entscheide, ob das Leben sich mit meinen Bedürfnissen deckt und auch, wie mir die Evolution dabei immer wieder auf die Sprünge geholfen hat.

Wie finde ich meine Geschichte?

Das geht alleine, im stillen Kämmerlein – indem ich beispielsweise einfach schreibe, meinen Lebenslauf als Brief an einen imaginären Enkel etwa. Oder ich zeichne eine Lebenslinie entlang eines Zeitstrahls: auf der X-Achse die einzelnen Lebensjahre bis heute, mit einigen herausragenden Ereignissen (negativ wie positiv), auf der Y-Achse beispielsweise die Erinnerung von Zufriedenheit und Glück, von 10 bis 100%. Dann bekomme ich selbst einen validen Eindruck von dem, wie ich die Vergangenheit gerade wahrnehme.

Wer das in Abständen macht, der bemerkt: Mit dem Alter und dem gelebten Leben weitet sich der Blick zurück und fokussiert sich zugleich neu. Damit kann der einzelne auch neu nach vorne schauen. Wer gestern noch keinen Ausweg gesehen hat und meinte, er müsse jetzt sein weiteres Leben wie Sysiphos immer wieder den Stein den Berg hochrollen, der kann durchaus heute den Zugang dazu finden, sich umzudrehen und den Stein liegen lassen.

Ein typischer Storyverlauf: die Ausgangssituation, Verunsicherung, Neuorientierung

Wie erzähle ich sie?

Mein Rat wäre: Das aktuell Wichtigste nehmen und damit beginnen. Als ich beispielsweise mein Konzept von Risikointelligenz entwickelt habe, habe ich meine eigene Risikobereitschaft überprüft und war ziemlich verblüfft, wie risikofreudig ich mich in meinem Leben erwiesen habe. Mir schien das zuvor alles selbstverständlich, eben „normal“. Diese Sicht war jetzt auf einmal obsolet. Und entsprechend stand dann in meiner Kurz-Vita plötzlich der erste Satz „Brigitte Witzer hat in ihrem Leben immer wieder Neuland betreten: …“ Das ist etwas ganz anderes als mit meinem Geburtstag und –ort zu beginnen.

Coaching und Storytelling: Gibt es Basis-Geschichten für Executives?

Ja. Die Geschichte, die den eigenen Weg erzählt: Was macht mich zu dem Top-Manager, der ich heute bin? Das wäre die Geschichte. Und nicht die eine, die quasi zwangsläufig auf den CEO-Job zuläuft, ist die packende, sondern die, die Hindernisse überwindet, Wendepunkte zeigt, das innere Zögern und Hadern ernst nimmt. Bitte nicht die gelackte Persönlichkeit!

Für mich relevant wäre dann noch die zweite Geschichte: Wo will dieser Executive hin? Wer als Executive diesen Bogen glaubhaft spannen kann, mit dem wollen Menschen arbeiten, weitergehen.

Alle anderen Geschichten sind aus meiner Erfahrung heraus situativ: Was kann der Executive relevantes sagen zum Kick-off eines Change-Prozesses? Wie wird aus einer langweiligen, uninteressanten Mitarbeiterversammlung, die nur so strotzt von nicht erzählten Wahrheiten und Geschichten, eine glaubwürdige Veranstaltung?

Es geht für mich bei Executives vor allem um eines: Hören Sie auf zu kommunizieren! Führen Sie Gespräche und erzählen Sie Geschichten!

Gespräche führen, Geschichten erzählen!

Gibt es typische Storyverläufe?

Typischerweise gehen wir alle durch Veränderungen, manche sind dramatisch, ganz viele sind unauffällig und dennoch außerordentlich wirkungsvoll. So und nur so entwickelt sich eine eigene Identität, eine Persönlichkeit. Ich hangele mich in folgendem Verlauf am Konzept der Identitätsbildung entlang, das wäre für mich eine typische Grundlage:

  • Die Ausgangssituation – was habe ich mitbekommen von meiner Familie? Wie war es bislang?
  • Eine Phase der Verunsicherung – was gibt es darüber hinaus? Was bringt mich ins Nachdenken?
  • Eine Phase der Neuorientierung – was inspiriert mich? Was und wer regt mich an?

Eine neue, reifere Identität festigt sich dann unweigerlich und ermöglicht neue, größere oder reifere Schritte.

Gibt es No-Gos im Storytelling von Executives?

Executives stehen im Rampenlicht. Ich würde Storytelling deshalb niemals als „aufdeckende Therapie“ betreiben, also darüber sprechen, wo gerade im Moment die großen eigenen Krisen stattfinden. Das öffnet in unserer Wirtschaft, wie sie heute ist, Tür und Tor für ein Powerplay, dem sich Executives gerade in der Verletzbarkeit der Wandlungsprozesse nicht aussetzen sollten.

Es mag Situationen geben, wo genau von dieser Verwundbarkeit zu erzählen die große Wende bringen kann – das wäre etwas für Profis; ich würde das aber keinem Einsteiger ins Storytelling raten, der womöglich noch ohne professionelle Begleitung so etwas plant und realisiert.

Wie kann ich überprüfen, ob die Story taugt, die ich über mich erzähle?

Erzählen Sie die Geschichte zwei, drei Freunden. Wenn der private Test positiv verläuft, dann würde ich professionalisieren: Suchen Sie sich einen Profi, etwa einen PR- oder Bühnen-Coach, der ihnen zuhört und justiert. Wo waren Körpersprache und Text noch nicht deckungsgleich, was kam nicht überzeugend an?

Jeder Lehrer sollte seine Biographie erzählen können – als lebendiges Vorbild von Selbstreflexion

Lässt sich Storytelling im Coaching auf Menschen im Allgemeinen übertragen?

Tja, wir müssen alle von uns reden können in Zeiten, in denen wir weder durch unsere Herkunft, also die Familie und ihren Stand, definiert werden, noch durch einen Beruf, den wir zwar erlernt haben, aber gar nicht mehr ausüben. Was hilft es, wenn ich mich als Architekt vorstelle, der aus dem Odenwald stammt, aber heute als Schauspieler in Berlin arbeite? Wie es dazu gekommen ist, die Geschichte dieser Bewegung sagt doch sehr viel mehr aus als die reinen Begriffe.

Ich glaube außerdem ganz sicher, dass gerade jeder Lehrer seine Biografie erzählen können sollte – als lebendiges Vorbild von Selbstreflexion und aufgearbeiteter Veränderungen.

Welche Rolle spielen die Geschichten der Klienten für dein Coaching und Storytelling?

Meist lautet der Auftrag für mich als Executive Coach ja etwa, der Klient möge „höhere Effizienz liefern“ oder „Resilienz stärken“. Das Unternehmen erwartet so bessere Management- oder Leadership-Ergebnisse. Hier liefern Geschichten schnell valide Anhaltspunkte dafür, ob jemand noch in Situationen feststeckt, die überwunden werden könnten. Ob Sackgassen oder endlose Kreise gezogen werden.

Gerade beim Management-Problem Nr. 1, „Verstand im Driver Seat“, machen die Geschichten schnell klar: Was ist hier eigentlich los? Wo fehlt es – und zwar aus einer anderen als der rationalen Perspektive?

Und deine eigenen Geschichten?

Ich benutze meine eigenen Geschichten immer wieder als (hoffentlich) kurze Beispiele. In meinem Leben gab es viel Wandel. Wie ich diesen integrieren und für mich nutzbar machen konnte, regt die Fantasie an und macht es ab und zu leichter, sich einzulassen.