Wie erzähle ich eine Story über Gerechtigkeit? Der amerikanische Philosoph John Rawls nutzt dazu den Schleier des Nichtwissens (veil of ignorance). Er ist ein zentrales Element seiner Philosophie und Basis für eine gerechte Gesellschaft. Der Schleier des Nichtwissens vermittelt das, worauf es Rawls ankommt – und zwar nicht in philosophisch komplexer Sprache, sondern in einer Form, die wir uns alle sehr gut vorstellen können.
Die Ausgangssituation seiner Story über Gerechtigkeit sieht so aus: Gerecht ist eine Gesellschaft, wenn sie auch und gerade den Schwächsten ein würdiges Leben ermöglicht, sagt Rawls. Die Frage ist nur: Werden die besser Situierten freiwillig teilen und Gerechtigkeit suchen?
Da kommt der Schleier des Nichtwissens ins Spiel; er eliminiert die Parteilichkeit, den Egoismus. Er sorgt für Fairness.
Eine Story über Gerechtigkeit ist eine Story über Fairness
Wer die Grundprinzipien einer Gemeinschaft gestaltet, sollte sich laut Rawls unter diesen Schleier begeben. So weiß man nicht, ob sich das gewählte Modell für oder gegen einen selbst auswirkt. Ein Reicher ist befangen. Ein Armer ebenso. Aber jemand, der nicht weiß, ob er als Reicher oder als Armer in der Gemeinschaft leben wird, der wird Gesetze schaffen, die alle – Reiche und Arme – fair behandeln.
In Rawls Worten liest sich das so:
„Zu den wesentlichen Eigenschaften dieser Situation gehört, dass niemand seine Stellung in der Gesellschaft kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebenso wenig sein Los bei der Verteilung natürlicher Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft. Ich nehme sogar an, dass die Beteiligten ihre Vorstellung vom Guten und ihre besonderen psychologischen Neigungen nicht kennen. Die Grundsätze der Gerechtigkeit werden hinter einem Schleier des Nichtwissens festgelegt. Dies gewährleistet, dass dabei niemand durch die Zufälligkeiten der Natur oder der gesellschaftlichen Umstände bevorzugt oder benachteiligt wird. Da sich alle in der gleichen Lage befinden und niemand Grundsätze ausdenken kann, die ihn aufgrund seiner besonderen Verhältnisse bevorzugen, sind die Grundsätze der Gerechtigkeit das Ergebnis einer fairen Übereinkunft oder Verhandlung.“
Was hinter dem Schleier passiert
Wer den Schleier des Nichtwissens trägt, der wird Grundregeln des Zusammenlebens definieren, die für alle Menschen fair sind. Aber was heisst das? Worauf könnten sich Arme, Reiche, Männer, Frauen, Gläubige, Atheisten, Kluge, Denkfaule, Träumer, Macher etc. hinter dem Schleier des Nichtwissens einigen? Ist das heutzutage nicht schwieriger denn je?
Der Prozess hinter dem Schleier läuft nach Rawls in drei Schritten ab: In einem ersten Schritt Grundregeln so gestaltet, dass alle die gleichen Rechte und möglichst viele Freiheiten haben. In einem zweiten Schritt werden Ungleichheiten nur dann toleriert, wenn diese allen zugutekommen, auch den Schwächsten. Ungleichheit ist also nur dann der Gleichheit vorzuziehen, wenn alle davon profitieren (Differenzprinzip). In einem dritten Schritt wird Chancengleichheit geklärt. Die Positionen der besser Gestellten sollten prinzipiell allen offen stehen.
Eine Story, die alle verstehen
Ganz gleich, wie kritisch dieses Modell an sich gesehen wird, die Story über Gerechtigkeit, die John Rawls erzählt, ist zunächst einmal für jeden verständlich. Das wiederum ist die Basis für eine Auseinandersetzung mit ihr. Wir könnten uns z.B. fragen, ob hinter dem Schleier tatsächlich ähnliche Ergebnisse erzählt werden, ganz gleich, ob sich dahinter radikale Fundamentalisten oder Aktivisten jeglicher Couleur verbergen.
Rawls gibt uns einen Erzählrahmen, in dem wir, angeregt von seiner Story diskutieren können. Und er gibt uns einen Erzählrahmen, den wir selbst nutzen können, wenn wir die Regeln für eine Gruppe festlegen wollen.
Ausgehend von Rawls Story über Gerechtigkeit – und das ist meiner Meinung nach das Spannende an seinem Vorgehen -, begeben wir uns selbst hinter diesen Schleier und versuchen herauszufinden, wie wir entscheiden würden. Wie weit können wir uns von unseren Weltbildern und Werten entfernen?
Gedankenexperimente wie der Schleier des Nichtwissens werden in der Philosophie immer wieder dazu genutzt, sich komplexen Fragen ganz konkret zu nähern. Durch diese Art des Storytelling wird jede Leserin und jeder Leser mit einbezogen in die Beantwortung der Frage. Nicht zuletzt aufgrund seiner Anschaulichkeit ist Rawls «Theorie der Gerechtigkeit» von 1971 bis heute ein einflussreiches Werk der politischen Philosophie.