Die Harvard-Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel, gehalten im Mai 2019, ist zugleich persönlich und weltumfassend. Es ist keine typische politische Rede, sondern vielmehr ein Glaubensbekenntnis. Merkel spricht über sich und über das große Ganze, nachdem sie in Harvard die Ehrendoktorwürde erhalten hat. Und ihre Rede enthält die Aufforderung an die Harvard-Absolventen, die zentralen Aufgaben unserer Zeit mutig und ohne Mauern in ihren Köpfen und Herzen zu ihren Aufgaben zu machen.

Merkels Rede kommt an. Sie wird immer wieder von langem Beifall und Jubel unterbrochen. Rund 30000 Menschen tummeln sich auf dem Gelände der Elite-Universität und sie sind ausgesprochen offen für die Gedanken der 64-jährigen Bundeskanzlerin, die den Vorstellungen ihres eigenen Präsidenten weitgehend zuwiderlaufen. Merkel scheint Donald Trump zu verstehen zu geben: Sie sind mir nicht wichtig genug, um Sie in diesem Rahmen zu erwähnen. Zumindest nicht namentlich.

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Sechs Gedanken für die Zukunft der Harvard-Absolventen

Was die Harvard-Rede von Angela Merkel auszeichnet, sind ihre Menschlichkeit und ihre Tiefe. Hier spricht der Mensch Angela Merkel und er erlaubt mehr Nähe als gewöhnlich. Auf der anderen Seite – und so entsteht die Spannung – blickt Merkel als eine der mächtigsten Frauen der Welt auf die großen Themen unserer Zeit und erklärt daran ihre eigenen Grundsätze. Sie spricht über Erderwärmung, Hunger, Krankheiten, Flucht und Vertreibung. „Das alles können wir schaffen“, sagt sie.

Ich analysiere Merkels Rede entlang der Sparkline, die im Storytelling ein großartiges Modell für überzeugende Vorträge ist. Mir geht es vor allem um die Struktur und um ausgewählte Elemente, die diese Rede besonders machen.

Die Struktur der Rede folgt der Zahl Sechs. Es gibt insgesamt sechs Gedanken, die die Kanzlerin den Harvard-Absolventen mitgeben möchte. Sechs Gedanken – Botschaften -, die sie am Ende ihrer Rede noch einmal zusammenfasst.

Das wäre mein Hauptkritikpunkt für alle, die aus dieser meiner Meinung nach sehr gelungenen Rede lernen möchten: Sechs Gedanken machen den Inhalt der Rede etwas schwer greifbar. An dieser Stelle ist weniger mehr. Drei Gedanken könnte ich mir merken. Drei Gedanken könnte ich mit Geschichten hinterlegen wie Merkel es gleich zum Einstieg macht. Bei sechs Gedanken verliert die Rede an Plastizität.

Nah und profund: Die politische und persönliche Philosophie von Angela Merkel

Darüber hinaus würde ein prägnanter Call to Action der Rede mehr Wucht verleihen. Die Zusammenfassung der sechs Gedanken am Ende verwirrt da eher. Wir sind ja nicht in einem Seminar.

Was hängenbleibt ist vor allem die starke Metapher der Mauer und der damit verbundene Leitsatz: „Tear down walls of ignorance and narrowmindedness, for nothing has to stay as it is.“

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Hier die Analyse der Harvard-Rede von Angela Merkel:

1. HEUTE

Ein Kompliment an das Publikum: „Today is a day of joy. It’s your day.“ Und sofort baut Merkel die Brücke: „… I would like to tell you about some of my own experiences.“ Klar. Deswegen ist sie ja dort.

2. MORGEN

Ihr werdet Harvard verlassen. „Now the door to a new life is opening. That’s exciting and inspiring.“ Und die Rede ist so aufgebaut, dass die Gedanken, die dort geäußert werden, den Studenten helfen sollen, ihren Weg ins Morgen zu finden. Dabei hat sie grundsätzlichen Charakter, es geht um Werte und moralische Fragen.

3. Inhalt

In einem Satz: „Tear down walls of ignorance and narrowmindedness, for nothing has to stay as it is.“ Alle anderen Gedanken lassen sich meiner Meinung nach daraus ableiten.

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4. Dauer

35 Minuten.

Ich habe mir die Videos vieler dieser Abschlussreden angesehen. 20 Minuten ist für mich die absolute Obergrenze. Jedoch: Diese Rede funktioniert, weil sie Deutsch und Englisch ist und weil die Übersetzerin ihre Sache großartig macht. Ohne Übersetzung würde die Rede allenfalls 20 Minuten dauern.

5. Erfolgskontrolle

Mit dieser Rede, so scheint mir, will Angela Merkel eine Art Bekenntnis hinterlassen. Sie fordert indirekt dazu auf, die USA und die Welt nicht den Trumps zu überlassen, sondern mit Offenheit, Vernunft und Augenmaß zu regieren, die Wahrheit zu ehren und die großen Aufgaben unserer Zeit nicht zu ignorieren, sondern mutig anzugehen. Die Erfolgskontrolle ist somit nur sehr indirekt möglich, allerdings wird mit stehenden Ovationen sehr deutlich, dass Merkels Gedanken auf fruchtbaren Boden fallen.

6. Call to Action

„Tear down walls of ignorance and narrowmindedness, for nothing has to stay as it is.“

Etwas unglücklich scheint mir, dass der Call to Action der Harvard-Rede von Angela Merkel am Ende überlagert wird von fünf weiteren Gedanken. Hier ist der komplette Passus, der komplette Call to Action. Nachdem die Kanzlerin ihre Rede nach kurzen einführenden Sätzen in Englisch Deutsch gesprochen hat, wechselt sie nun wieder ins Englische:

„That’s why I want to leave this wish with you: Tear down walls of ignorance and narrowmindedness, for nothing has to stay as it is. Take joint action – in the interests of a multilateral global world. Keep asking yourselves: Am I doing something because it is right or simply because it is possible? Don’t forget that freedom is never something that can be taken for granted. Surprise yourselves with what is possible. Remember that openness always involves risks. Letting go of the old is part of a new beginning. And above all: Nothing can be taken for granted, everything is possible.“

Hier eine deutsche Zusammenfassung:
  • „Reißen Sie Mauern der Ignoranz und Engstirnigkeit ein, denn nichts muss so bleiben, wie es ist.“
  • „Handeln Sie gemeinsam – im Sinne einer multilateralen globalen Welt.“
  • „Fragen Sie sich immer wieder: Tue ich etwas, weil es richtig ist, oder nur, weil es möglich ist?“
  • „Vergessen Sie nicht: Freiheit ist niemals selbstverständlich.“
  • „Überraschen Sie sich damit, was möglich ist.“
  • „Bedenken Sie: Offenheit birgt immer Risiken. Das Loslassen des Alten gehört zum Neuanfang dazu. Und zuerst und vor allem: Nichts ist selbstverständlich, alles ist möglich.“

7. Publikum

Die Harvard-Abschlussklasse von 2019 sowie Harvard-Alumni bis zurück zum Jahrgang 1941 – insgesamt mehr als 30.000 Zuhörer.

Da die Rede persönliche Erzählungen enthält sowie Grundsätze der Führung und des politischen Handelns, spricht Angela Merkel darüber hinaus über das Video zu allen, die ihren Spirit verstehen und vielleicht von ihr lernen wollen.

8. Akt 1

Von „Today is a day of joy“ bis „der uns beschützt und der uns hilft zu leben“.

Hier geht es um den Status Quo, den Moment, in dem mit dem Harvard-Abschluss der Wandel beginnt, und den beschreibt Merkel in wenigen Sätzen, um mit einem Hesse-Zitat in den zweiten Akt überzuleiten.

9. Akt 2

Von „Dieses Worte Hermann Hesses haben mich inspiriert“ bis „Nur eins ist klar: Es wird wieder etwas Anderes und Neues sein“.

Der zweite Akt nimmt mehr als 90 Prozent der Redezeit in Anspruch. Üblicherweise pendelt er zwischen Gegenwart und Zukunft, um das zu verdeutlichen, was der Redner erreichen will und dabei das Publikum mitzunehmen, es immer wieder abzuholen. Bei Angela Merkel pendelt er zwischen dem Gestern, dem Heute, dem Morgen. Und wichtiger noch: Er pendelt zwischen Sein und Sollen. Schauen wir uns den zweiten Akt etwas näher an.

Angela Merkel leitet sechs Gedanken über (politisches) Handeln und Führung aus ihrer Erfahrung ab. Zum Teil erzählt sie ganz persönliche Anekdoten. Das ist die Logik dieses zweiten Aktes.

Merkel pendelt zwischen eigenen Erfahrungen und dem großen Bild. Und sie beginnt mit einer Geschichte aus ihrer Studienzeit, die wie ein Gleichnis erzählt wird. Ich bin überzeugt davon, dass diese einfache, kleine Geschichte ganz wesentlichen Anteil daran hat, dass Merkels Rede so positiv in Harvard aufgenommen wurde. Denn diese Geschichte macht die mächtige Deutsche menschlich. Sie ist der zentrale Punkt der Rede.

Mit 24 Jahren, sagt sie, habe sie ihr Physikstudium abgeschlossen. „Die Welt war geteilt in Ost und West. Es war die Zeit des Kalten Krieges. Ich bin in Ostdeutschland aufgewachsen, in der DDR, dem damals unfreien Teil meines Heimatlandes, in einer Diktatur. Menschen wurden unterdrückt und überwacht. Politische Gegner wurden verfolgt. Die Regierung der DDR hatte Angst, dass das Volk weglaufen würde in die Freiheit. Deshalb hatte sie die Berliner Mauer gebaut.“

Was fest gefügt ist, das kann sich ändern

Die Mauer wird zu ihrer zentralen Metapher. Merkel erzählt, wie sie bei ihrer ersten Arbeitsstelle in der Akademie der Wissenschaften täglich auf die Mauer zuging und doch kurz vorher abbiegen musste. „Jeden Tag musste ich kurz vor der Freiheit abbiegen. Wie oft habe ich gedacht, das halte ich nicht aus.“

Schließlich erzählt sie vom Fall der Mauer 1989. Eine neue Welt entsteht und für sie öffnet sich eine Tür in die Freiheit. Sie sagt: „In diesen Monaten vor 30 Jahren habe ich persönlich erlebt, dass nichts so bleiben muss, wie es ist. Diese Erfahrung, liebe Graduierte, möchte ich Ihnen für Ihre Zukunft als meinen ersten Gedanken mitgeben: Was fest gefügt und unveränderlich scheint, das kann sich ändern.“

Und so geht es weiter, von einer Erfahrung zur nächsten.

Den größten Applaus erntet Merkel, als sie über die Wahrheit spricht: „Vor allem braucht es Wahrhaftigkeit gegenüber anderen und – vielleicht am wichtigsten – gegenüber uns selbst. Wo wäre es besser möglich, damit anzufangen, als genau hier an diesem Ort, an dem so viele junge Menschen aus der ganzen Welt unter dem Motto der Wahrheit gemeinsam lernen, forschen und die Fragen unserer Zeit diskutieren? Dazu gehört, dass wir Lügen nicht Wahrheiten nennen und Wahrheiten nicht Lügen.“

10. Akt 3

Von „That’s why I want to leave this wish with you“ bis „Thank you“.

Der dritte Akt nimmt ca. 5 Prozent der Redezeit in Anspruch. Er fasst alles noch einmal zusammen.

In den Jubel hinein wechselt Merkel wieder zurück ins Englische und zählt ihre sechs Kerngedanken noch einmal auf. Sie sind Call to Action, Weisheiten, hoffnungsvolle und zugleich mahnende Sätze, die nachhallen sollen. Und sie schließt mit einer Variante von Wir schaffen das: „And above all: Nothing can be taken for granted, everything is possible.“

Warum sollen wir das schaffen? Was ist der Benefit? Sie hat es vorher gesagt: Der Benefit ist eine gute Welt, die den Werten entspricht, die auch in Harvard gelehrt und geehrt werden – allen voran der Wert der Wahrheit.

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