Was sind Mythen? Warum sind sie wichtig? Und warum brauchen nicht nur Menschen, sondern auch moderne Unternehmen und Organisationen Mythen? Ein Interview mit der Autorin und Mythos-Expertin Silvia Zulauf, Gründerin der Berliner Agentur MythosResearch.
Was sind Mythen, einfach erklärt?
Mythos – im Plural Mythen – ist ein schillernder Begriff, der für ganz unterschiedliche Phänomene steht: zum Beispiel für sinnstiftende Erzählungen, wie die vom Garten Eden oder dem Heiligen Gral. Aber auch Idole wie Jimmi Hendrix und symbolische Objekte wie der Mercedes-Stern oder das Christliche Kreuz werden als Mythos bezeichnet.
Gibt es bei diesen großen Unterschieden einen gemeinsamen Nenner? Ja, die gemeinsame Funktion dieser Phänomene ist es, Sinn, Bedeutung, Werte und Gewissheiten auf implizite Weise zu vermitteln. Also Inhalte, die sich nicht mit unseren logischen Sprachstrukturen und Begrifflichkeiten erfassen lassen. Das, was man nicht benennen kann, schlüpft durch Mythen und symbolische Objekte durch unsere „Lücke im Schirm der Rationalität“ (Blumenberg).
Du setzt logisches Denken als Gegenpart zum Mythos. Wie ist das zu verstehen?
Das Mythos/Logos-Konzept geht auf die alten Griechen zurück. Zwischen den Wahrnehmungswelten und Sprachformen von Mythos und Logos hatten sie eine strikte Trennlinie gezogen.
Im Gegensatz zur „erzählenden Rede“ des Mythos stand der „Logos“ für die „begriffliche Rede“ der Wissenschaft und Erkenntnis. Also für beweisbare Fakten, für alles, was erforscht, berechnet und durch logisches Denken bewiesen werden kann.
Erkenntnisse der Gehirnforschung zeigten Analogien zwischen diesem frühen Mythos/Logos-Modell und den unterschiedlichen Fähigkeiten von rechter und linker Gehirnhälfte auf. Nach einer Zusammenfassung von Springer/Deutsch (1987) speichert die rechte Gehirnhälfte das Wissen, das sich nicht verbal ausdrücken lässt. Sie nimmt ganzheitlich wahr, versteht Analogien und Metaphern.
Jimi Hendrix, Mercedes-Stern und die Lücke im Schirm der Rationalität
Für die Umsetzung der Wahrnehmung des rechten Gehirns scheint vor allem die linke Gehirnhälfte zuständig zu sein, hier ist auch bei fast allen Menschen das Sprachzentrum angesiedelt (Vgl. Springer/Deutsch).
Von einer starren Trennung zwischen den Zuständigkeiten der rechten und linken Hemisphäre geht man heute jedoch nicht mehr aus: Einstein hätte ohne seine Fähigkeit zur unbefangenen Wahrnehmung nicht die Relativitätstheorie entwickelt – und die Entwicklung kultureller Höchstleistungen erfordert auch die Reflexion in den sprachlichen Fähigkeiten des logischen Denkens…
Oft wird der Begriff Mythos abwertend verwendet, im Gegensatz zu Wahrheit. Nach dem Motto: Ach, das ist doch nur ein Mythos! Da hast du ein anderes Bild, oder?
Die ursprüngliche Bedeutung von Mythos ist das „wahre Wort“, aber tatsächlich kann jeder Mythos, wenn das Vertrauen in ihn verspielt ist, zum „Mythos“ werden.
Solange man an einen Mythos glaubt, wird er nicht hinterfragt, nicht einmal wahrgenommen. Wird jedoch das Vertrauen in eine mythische Grundannahme, Unternehmensmarke oder charismatische Persönlichkeit erschüttert – dann ist die Empörung groß: Das „blinde“ Vertrauen wurde enttäuscht. Der Mythos wird abgewertet und ist nun – zum Mythos geworden.
Vom wahren Wort zum Erdichteten
Dass der Begriff Mythos heute meist in seiner negativen Bedeutung verwendet wird, verweist aber auch auf die Entwicklung unserer Weltanschauung. Vom „wahren Wort“ wurde er durch die antiken Tragödien zur „autoritativen Überlieferung“ und schließlich zum „Erdichteten und Phantastischen“. Schon Platon benannte alles, was nicht begründbar ist, als „Mythologie“, als ein Gerücht, das aber auch auf Wahres verweist. Die Aufklärung schließlich sah den Mythos nur noch als kindliche Vorstufe des logischen Denkens, die zu überwinden sei…
Kannst Du sagen, welche Mythen Dich geprägt haben?
Oh, es sind viele. Ich könnte aber nur die klar benennen, an denen ich nicht mehr teilhabe. Denn die Mythen, die mich tragen und ausrichten, sind zum größten Teil unbewusst. Um sie bewusst wahrnehmen zu können, müsste ich sie mit meinem sprachlichen Bewusstsein reflektieren, sozusagen auf die Ebene des Logos heben. Ich denke, das ist es, was bei einer Psychoanalyse geschieht.
Warum brauchen wir Menschen Mythen?
Wir sind Sinnsucher. Keine Kultur kommt ohne Mythen aus, tatsächlich sind sie für jeden von uns – und für unser gesellschaftliches Zusammenleben unverzichtbar.
Mythen bilden und festigen Glaubens- und Wertvorstellungen. Mythen geben uns Orientierung, sie legitimieren den Status Quo, stiften Identität, Sinn und Sicherheit.
Blicken wir auf das strategisches Storytelling, mein Gebiet. Ich frage mich: Wie würdest du Mythos und Story bzw. Narrativ unterscheiden? Und was verbindet beide?
Die Begriffe „Mythos“ und „Narrativ“ haben die gleiche Wortwurzel, sie stehen beide für Geschichten, für Erzählungen, für Stories.
Mythen vermitteln zeitlos Inhalte
Der signifikanteste Unterschied zwischen einem Mythos und einem Narrativ liegt darin: Eine mythische Erzählung wird auf besondere Weise rezipiert. Sie hat die Fähigkeit, auf implizite Weise transkulturell und zeitlos Inhalte zu vermitteln. Inhalte, die uns jenseits eines faktischen und historischen Kontextes unmittelbar berühren. Denn in der Wahrnehmung der Zuhörenden blendet das mythische Erleben Zeit und Geschichte aus. Das Erzählte wirkt wie eine präsente Erfahrung in der Gegenwart. (vgl. Assmann, 2003).
Stories und Anekdoten hingegen sind sekundäre Formen des Mythos, oft stützen und flankieren sie die Hintergrundannahmen, die die „große Geschichte“ impliziert hat.
Auch in Inhalt und Form unterscheiden sie sich vom Mythos. Ausgeschmückte Ereignisse aus der Vergangenheit, metaphorische Beziehungen zwischen der Firmengeschichte und den aktuellen Unternehmensinteressen, können Inhalte von Stories sein. Ebenso wie Anekdoten, die Situationen oder Personen karikieren, vermitteln sie Werthaltungen, und zeigen auf welche Normen und Verhaltensweisen erwünscht sind. Bei der Analyse dieser Geschichten lassen sich manchmal bereits Grundannahmen und Sinninhalte herausarbeiten, die auf den zentralen Mythos verweisen.
Ob sich eine Geschichte, eine Erzählung oder Story zum Mythos entfaltet oder nicht, entscheidet sich letztlich in der Wahrnehmung seiner Zuhörer.
Die folgenden zwei Erzählungen von Mitarbeitern aus der Adolf Würth GmbH & Co.KG verdeutlichen den Unterschied zwischen Anekdote und Mythos.
Eine Reinhold-Würth-Anekdote aus der Konzernzentrale
„Als wir das neue Verwaltungsgebäude bezogen haben, lag drinnen schon der Teppichboden aus und von draußen wurde ständig der Dreck hereingeschleppt. Über die Fußstapfen auf dem Teppich hat sich Reinhold Würth immer geärgert. Deswegen hat er sich eines Tages einen Besen und eine Schaufel besorgt und vor aller Augen eigenhändig den Dreck weggekehrt!“
Mit dem herausgestellten Vorbild-Charakter vermittelt diese Anekdote, welches Handeln in der Firma erwünscht ist. Eine Mythos-Story hingegen ist nicht didaktisch. Eine Mythos-Story will auch nichts erklären. Ihr Inhalt ist Sinn und Identität. Dabei muss ein Mythos weder logisch noch wahr sein.
Das, was ein Mythos vermittelt, liegt nicht in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft, seine Botschaft berührt uns vielmehr ganz unmittelbar im Hier und Jetzt. Mythen leben von ihrer Präsenz im Augenblick der Erzählung.
Der Reinhold-Würth-Mythos: „Er hat es für seinen Vater getan“
„Reinhold Würth ist als kleiner Junge mit dem Bollerwagen durch Künzelsau gelaufen… da, wo jetzt die Zentrale steht.
Dann ist sein Vater sehr früh verstorben… Doch er ist losgefahren und hat als erster der Branche direkt an die Kunden geliefert.
Er hat aus dem 1-Mann-Betrieb … einen globalen Konzern mit über 20. Milliarden Euro Umsatz und 80.000 Mitarbeitern gemacht.
Das alles hat er für seinen Vater getan. Und das ist es, was mich so bewegt.“
Zwar klingt die Geschichte, die dieser Mythos erzählt, wie eine Abfolge von Episoden. Es geht ihr jedoch nicht um chronologische Ereignisse oder Tatsachen, die auf Ursache und Wirkung beruhen.
Die eigentliche Antriebskraft hinter dieser Geschichte ist die Bearbeitung von Widersprüchen und Paradoxien. Dieses Phänomen beschreibt Claude Levi-Strauss als den „binären Code des Mythos“.
Das ländliche Künzelsau |
Die moderne Würth-Zentrale
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Bollerwagen |
Hochentwickelte Logistik
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Trauer, Abhängigkeit
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Mut, Initiative |
Kleinunternehmen |
Globaler Konzern
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Bescheidenheit |
Eigennutz |
©Silvia Zulauf, Interviews Künzelsau 2014
Demnach besitzen mythische Erzählungen eine gemeinsame Struktur, die sich mit der Struktur des Geistes selbst deckt: Für jeden bewussten Punkt gibt es einen unbewussten Kontrapunkt. Durch Gegensätze und Paradoxien, gelingt es Mythen, ihre „Zuhörer auf eine neue Ebene der Erfahrung zu versetzen“. (Hampden-Turner, 1982)
Interessant ist auch, wie unterschiedlich diese beiden Erzählweisen auf den Zuhörer wirken: Eine Anekdote löst den kognitiven „Aha“-Effekt aus, bei einer Mythos-Story hingegen stellt sich die Erfahrung von „Präsenz“ ein. Dieses präsente Erleben bleibt in der Erinnerung erhalten und wird beim Weitererzählen aktiviert. Typische einleitende Sätze, die ich vor der Erzählung eines Mythos hörte, waren zum Beispiel: „Es ist noch immer in meinen Ohren… “ – oder „Ich sehe es direkt vor meinen Augen….“.
Mythen als unsichtbare Erfolgsfaktoren in Unternehmen
Du sprichst vom Mythos als „unsichtbarem Erfolgsfaktor“ von Unternehmen, hast ein Buch zu diesem Thema veröffentlicht. Wie stelle ich mir die Arbeit einer Mythos-Beraterin konkret vor?
Alles, was sich bei den qualitativen Interviews und der Feldforschung offenbart, lässt sich in das Modell einordnen und in Beziehung setzen. Somit ist das Modell sowohl für die Analyse als auch für Coaching und Beratung ein sehr hilfreicher Navigator.
Mein Mythos-Modell arbeitet mit der Aufteilung „Logos“ und „Mythische Wahrnehmung“, um die Dynamiken bei der Entwicklung und Ausrichtung einer Unternehmenskultur sichtbar zu machen.
Die untenstehende Grafik wird gelesen von unten rechts, dem Feld „Mythische Wahrnehmung“. Von hier aus kann die Ausbildung einer Unternehmenskultur bis hin zu ihrer Entwicklung einer „Ideologie/Leitbild“ – und zurück zum Feld „Mythische Wahrnehmung“ – durchdekliniert werden. Alles, was sich bei den qualitativen Interviews und der Feldforschung offenbart, lässt sich in das Modell einordnen und in Beziehung setzen.

Mythos-Modell von Silvia Zulauf
Können wir in Unternehmen oder in der Gesellschaft eigentlich immer wieder neue Mythen kreieren oder ist das eine Illusion und wir gehen immer nur und immer wieder in Spuren?
Ob etwas zum Mythos wird oder nicht, das entscheidet sich immer in der Wahrnehmung seiner Rezipienten. Roland Barthes sagt: „Alles kann zum Mythos werden“. Tatsächlich knüpft ein „neuer“ Mythos aber immer an ein bekanntes Thema an. Erst indem ein Narrativ ein altes kulturelles Muster aktiviert, also mit vorhandenem mythischem Material arbeitet, gewinnt es seine Tiefe und Überzeugungskraft.
Wie lässt sich sicherstellen, dass Mythen in Unternehmen nicht zur Manipulation verwendet werden?
Jede kulturelle Gemeinschaft, jedes Unternehmen entwickelt eine vorbewusste Sicht. Dieses „mythische Weltbild“ wird von ihren Mitgliedern durch symbolische Kommunikationsformen miteinander konstruiert, abgeglichen und ständig aktualisiert.
Mythen haben zwar einen sehr beständigen Kern, dennoch werden sie in der lebendigen Kommunikation der Kulturmitglieder immer wieder den Gegebenheiten angepasst, verändert und variiert. Das gilt auch für Unternehmens-Kulturen.
Jede Gesellschaft hat ein mythisches Weltbild
So gesehen ist ein Mythos eine „sozial konstruierte Realität“. Muss er zu viele Widersprüche überbrücken, verliert er an Überzeugungskraft, bildet Submythen oder Gegenmythen – und riskiert, schließlich zum „Mythos“ zu werden.
In einem demokratisch geprägten Umfeld halte ich daher das Risiko, dass ein Mythos sozialtechnisch als Instrument zur Verzauberung der Mitarbeiter oder zur Mystifizierung wahrer Zusammenhänge wirkungsvoll eingesetzt werden könnte, für sehr gering.
Was ist Deine Empfehlung an eine Unternehmensleitung? Was sollte sie beachten und tun, damit ihre Anekdoten und Mythen ein Erfolgsfaktor sind und bleiben? Und wie kannst Du sie dabei unterstützen?
Entscheidend ist, dass die Unternehmensleitung die Anekdoten und Mythen kennt und sich der Werte, Sinn-Konstrukte und Grundannahmen bewusst ist, die in ihrem Unternehmen kursieren!
Denn nichts bleibt, wie es ist. Das Umfeld eines Unternehmens verändert sich ständig. Stichworte sind Neuausrichtung, Fusion, Generationenwechsel.
Je besser eine Unternehmensleitung ihren Mythos kennt, desto sicherer kann sie zwei gefährlichen Risiken entgehen:
- Blind ihrem Mythos zu folgen und dabei den Markt, Innovationen, neue Anforderungen zu verpassen (Beispiel Nokia, die Autoindustrie…) oder –
- Grundlegende Veränderungen ohne Rücksicht auf ihren Mythos vorzunehmen und damit die Loyalität ihrer Mitarbeiter und Stakeholder zu verlieren.
Du hast vorhin die Psychoanalyse erwähnt. Verstehst Du das, was Du machst, als Firmenpsychoanalyse?
So würde ich das nicht benennen. Mein Fokus liegt nicht auf der Psyche des Individuums, sondern auf den kollektiven Grundannahmen, Glaubenssätzen, der Sicht auf die Zukunft.
Aber natürlich geht es darum, dass die Unternehmensleitung sich der Mythen, die letztlich ihre Zukunft ausrichten, bewusst ist. Nur dann kann sie durch ihre Botschaften, ihr Verhalten und ihre Handlungen die richtigen Impulse setzen, mit Leitbild und Strategie in Übereinstimmung bringen.
Sich der Mythen bewusst werden, die unsere Zukunft ausrichten
Nun sind aber Mythen, an denen man selbst teilhat, schwer zu erkennen. Hier unterstütze ich Unternehmen mit meinem Blick von außen. Durch meine spezielle Interview- und Analyse-Technik decke ich tiefliegende Ebenen auf: Blockaden, Knoten und Tabus, aber auch Kraftquellen, Paradoxien und Highlights kommen zum Vorschein.
Bei der Abschlusspräsentation gibt es immer viele Ah’s und Oh’s – „es fiel uns wie Schuppen von den Augen“ – sagte ein Eigentümer treffend.
Diese Spiegelung ist eine starke Intervention für alle Unternehmensmitglieder: Zum einen lösen sich durch die Reflexion blockierende Mythen – zum anderen wirkt die Konfrontation mit der eigenen Kultur stärkend auf das Wir-Bewusstsein und die Identität! Von diesem Punkt aus ist Handeln anschlussfähig und sehr wirkungsvoll…
Wer weiterführende Literatur zum Thema Mythos sucht:
Zulauf, Silvia (1994/2009). Unternehmen und Mythos – Der unsichtbare Erfolgsfaktor. 2. Auflage. Wiesbaden: GWV Fachverlage
Zulauf, Silvia (2019). Keeping Your Mythos Alive: How to Nourish and Nurture a Business’s Mythos Through Corporate Transformations. In: Transforming Organizations. Hrsg. Von Jacques Chlopczyk und Christine Erlach. Springer Nature Switzerland
Springer, Sally P., / Deutsch, Georg (1987): Linkes – Rechtes Gehirn: Funktionelle Asymmetrien S. 34; S. 51 ff., S 62; S. 27 ff, S. 31 ff. Heidelberg.
Blumenberg, Hans. (1979/2001). Arbeit am Mythos. Frankfurt/M: Suhrkamp
Hampden-Turner, Charles (1982). Modelle des Menschen, S. 199. Weinheim/Basel.
Levi-Strauss, C. (1981). Strukturale Anthropologie I (pp. 226 ff.). Frankfurt/M: Suhrkamp.
Hampden-Turner, Charles. (1982): Modelle des Menschen. Weinheim/Basel.
Cassirer, Ernst. (1925): Sprache und Mythos. Leipzig.
Assmann, J. (1991). Das Fest und das Heilige. (pp. S 26) Gütersloh, Gütersloher Verlagshaus.