Die Tiefengeschichte erzählt von Hoffnung, Sehnsucht, Scham und Angst. Eine der spannendsten Deep Storys ist die von der Warteschlange. Sie findet sich bei der amerikanischen Soziologin Arlie Hochschild.
Hochschild hat sich als Kalifornierin in den republikanischen amerikanischen Süden begeben, um insbesondere die weißen Trump-Wähler zu verstehen. Diejenigen, die zu kurz gekommen sind. Die J.D. Vance ist seiner Autobiografie Hillbillys nennt – Hinterwäldler.
Die Tiefengeschichte, die Hochschild findet, lässt sich meiner Meinung nach auch als Storytelling-Modell nutzen, um sich besser in bestimmte europäische Wählergruppen einzufühlen.
Die Tiefengeschichte ist eine „feel-as-if“ story
Hochschild schreibt: „Eine Tiefengeschichte ist eine feel-as-if story – es ist die Geschichte, die Gefühle uns in Form von Sprache erzählen. Sie schiebt die Urteilskraft und die Fakten beiseite. Sie erzählt uns, wie sich die Dinge anfühlen.“
Es geht also im Kern um Gefühle, die sich in dieser Geschichte, die jeder Mensch oder jede Gruppe von Menschen mit sich trägt, spiegeln. Die Tiefenstory entscheidet so darüber, was wir für wirklich und möglich halten. Was wir uns vorstellen können, was nicht. Und was wir hören, was nicht. Was wir sehen, was nicht. Und was wir fürchten, was nicht. Schließlich: Was wir erstreben, was nicht.
Anders gesagt: Wir hören, sehen, fürchten, erstreben, was wir fühlen. Persönliche Erlebnisse und kollektive Erfahrungen bilden dafür die Basis. Nun zu Hochschilds Forschungen im Süden der USA.
Lost in der Warteschlange zum American Dream
Ausländerfeindlich, schwach gebildet, mögen Waffen. Hochschild sucht unter der Oberfläche dieses Klischees. Dazu fährt sie nach Louisiana und findet zwei völlig unterschiedliche Welten innerhalb der USA, die so gar nicht zueinander finden können.
Sie findet die Geschichte des amerikanischen Traums. Die Metapher: Jeder einzelne steht in der Schlange, um ihre oder seine Träume zu verwirklichen. Doch sie haben nicht das Gefühl, dem Traum näher zu kommen, obwohl sie sich durch ihr Leben gekämpft haben.
Da sind, erzählt Hochschild, immer wieder „Line Cutters“ – Vordrängler: Frauen, Schwarze, amerikanische Ureinwohner, Einwanderer und Flüchtlinge aus aller Welt, der braune Pelikan mit seinen ölverschmierten Schwingen. Alle scheinen mehr staatliche Unterstützung und Zuwendung zu bekommen als sie selbst.
Schlimmer noch: Man nennt sie, die brav warten und die Vordrängler mit zunehmender Wut ertragen, White Trash und Crazy Rednecks.
Diese Warteschlange erscheint als Teil der Geschichte der USA. Hochschild verfolgt die Spuren bis in die Zeit der Nord- und Südstaaten. Die weißen Arbeiter sehen die sehen die reichen Plantagenbesitzer nicht als Ausbeuter, sondern vielmehr als Wohltäter. Sie repräsentieren ein erstrebenswertes gutes Leben. Das schlimme Schicksal erblicken sie in dem der Sklaven.
Fremde im eigenen Land: die 1860er- und 1960er-Jahre
Das Geschichtsbild im Zeitraffer: Der Norden gewinnt den Bürgerkrieg und beutet daraufhin den Süden aus. 100 Jahre später kommen die Bürgerrechtsaktivisten und Freedom Rider. Eine Gruppe nach der anderen drängelt sich vor.
„Kulturell gesehen hatte sich der gesamte Norden vorgedrängt und den Süden in der Warteschlange nach hinten abgedrängt, auch wenn stetig Bundesmittel von Norden nach Süden geflossen waren, was gern vergessen wurde.“
So gab man dem „Beschaffer“ und „Ermöglicher“ all der Vordrängler die Schuld: dem Staat. Er machte die von Hochschild untersuchten Weißen im Süden der USA zu Fremden im eigenen Land. In ihrer Tiefengeschichte sind sie Verratene und Verspottete – politisch, ökonomisch, kulturell.
Trump gibt der Tiefengeschichte einen positiven Dreh
„Meine rechten Freunde fühlten sich genötigt, ihre Gefühle zu ändern, und das gefiel ihnen nicht; sie fühlten sich den wachsamen Augen der ‚Politische-Korrektheit-Polizei‘ ausgesetzt. Was ihre Gefühle betraf, hatten sie den Eindruck, dass man sie wie Kriminelle behandelte und die Liberalen die Waffen hatten … Trump ermöglichte es ihnen, sich als gute, moralische Amerikaner zu empfinden und zugleich überlegen gegenüber Menschen zu fühlen, die sie für ‚anders‘ oder unter ihnen stehend hielten.“
Hochschild weist immer wieder darauf hin, dass diese Tiefengeschichte höchst instabil werden kann beim Blick auf die Fakten. Doch genau darum geht es in diesem Kontext ja nicht. Storytelling trifft immer eine Auswahl, um den roten Faden zu spinnen. So entsteht eine subjektive, emotional gefärbte Matrix.
Lauschen, um unsere Tiefengeschichten zu verstehen
Wie sehen die Tiefengeschichten nicht nur der Rechten in Europa aus? Welcher Traum hängt am Horizont? Wie sieht die Warteschlange aus? Oder braucht es eine andere Metapher, um das Bild auf dieser Seite des Atlantiks zu beschreiben?
Das Vorgehen von Arlie Hochschild, die Storys, die erzählt werden, mit soziologischer Analyse zu verknüpfen, finde ich äußerst spannend, weil sie so mit ihren Büchern ein viel größerer Kreis von Menschen erreicht. Menschen, die uns stärker berühren, als pure Fakten.
Die Basis dafür sind Neugier und Offenheit und eine Bereitschaft, sich die Geschichten Andersdenkender und – wichtiger noch – Andersfühlender anzuhören. Vielleicht ist das der beste Weg, auch ein Gefühl für unsere eigene Tiefengeschichte, die unserer Unternehmen, Teams oder Communitys zu bekommen: das Lauschen.
https://www.blaetter.de/ausgabe/2017/oktober/weiss-und-stolz-und-abgehaengt
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