Die Wut, die Abgründe, die Spaltung der Gesellschaft: 20 Zitate aus Virginie Despentes Meisterwerk Vernon Subutex. Der Roman ist ein Sittenbild der französischen Gesellschaft. Doch es braucht nicht viel Fantasie, um Deutschland darin wiederzukennen.

Das Geniale an der Geschichte über den Plattenladenbesitzer Vernon, der pleite geht und daraufhin an den Rändern der Gesellschaft entlangtaumelt, ist das Einfühlungsvermögen in Radikale aller Art. Wir kriechen ihnen unter die Haut, den Rockstars, den Rechten, den Attentätern, den Börsenmaklern. Alles quer durch Weltanschauungen und Religionen. Alles ohne Filter.

Kein leichter Stoff. Aber gerade diese Empathie der Autorin für den bunten Reigen extremer Figuren macht die Faszination des Romans aus. Und seine Relevanz. Die 20 Zitate aus Virginie Despentes Meisterwerk Vernon Subutex zeigen, wie aktuell das Buch ist. Wie sehr es uns helfen kann, auch die deutsche Realität zu verstehen.

Das Storytelling: Statt Mainstream ein eigener, schockierender Stil

Insgesamt sehe ich hier Storytelling auf höchsten Niveau. Einzigartig in seiner Direktheit, im unverblümten Still, in der Struktur einer modernen Odyssee. Virginie Despentes gehört für mich zu den Autorinnen, die herausragend sind, wenn es darum geht, Menschen zu porträtieren, Städte und ihre Stimmungen, Länder – oder, noch eine Nummer größer: eine Epoche zu malen.

Mir jedenfalls hat selten ein Roman so direkt Zugang zu Gedanken und Gefühlen von Menschen verschafft, die in meinem Umfeld nicht vorkommen. Die in den Talkshows keinen Platz haben. In den Nachrichten, in bunten KI-generierten Postings. Ich mag die Ironie, die alles durchzieht. Auch das ist bei Virginie Despentes hohe Schule: Das Makabre so zu sagen, dass wir schmunzeln.

20 Zitate aus Virginie Despentes Meisterwerk Vernon Subutex

Jammern. Sie hat sich allerdings sehr verändert. Jetzt jammerte sie die ganze Zeit. Man könnte fast denken, dass sie ihre Zeit damit verbringt, Listen von Leuten aufzustellen, die nicht nett zu ihr gewesen sind, aber selbst größte Mühe hat, zu irgendwem großzügig zu sein.
Armut. Die Armut hat sich ausgebreitet, als hätte jemand in den Straßen und U-Bahn-Gängen einen Sack Unglück ausgekippt. Es ist eine verfluchte Installation, die Hauptstadt ist zur Galerie der Grausamkeiten geworden, eine tägliche Demonstration dessen, was der Mensch seinem Nächsten zu verweigern imstande ist.
Pingelig. Emilie ist pingelig geworden in Sachen Sauberkeit. Früher war ihr das total egal. Heute könnte sie wegen ein paar Krümeln unter dem Tisch oder Kalkspuren am Wasserhahn zur Mörderin werden.
Supermarkt. Nach fünf Minuten im Supermarkt könnte Xavier den ganzen Laden in die Luft jagen. Im Monoprix seines Viertels haben Idioten das Sagen. Der Wahnsinn hat Methode: Sie warten, bis der Laden richtig voll ist, dann lassen sie die Mitarbeiter Ware auffüllen. Sehen zu, dass der Durchgang für die Einkaufswagen maximal behindert wird. Genau so gut könnten sie es morgens, vor Ladenöffnung, machen oder wenn nichts los ist. Nein, es müssen die Spitzenzeiten sein: Los, stell drei Paletten zwischen die Regale, wenn die bescheuerten Konsumenten einkaufen wollen, sie sollen leiden.
Schule. Im Laufe der 90er-Jahre war die erste Generation der von klein auf verwöhnten Nieten zu einer Horde schwachsinniger Eltern herangewachsen. Plötzlich tauchten die gehirnamputierten Mütter in der Schule auf erklärtem dem Lehrer: wenn mein Kind schlecht lernt, dann haben Sie versagt. Was willst du darauf antworten?

Gleichgültigkeit. Im Angesicht der Katastrophe hält sich Vernon an einen Grundsatz „So tun, als ob nichts wäre“.

Erfolg. Alex war der Typ, dem man mitteilte, er habe hunderttausend erste Singles verkauft, und der deswegen in den Abgründen der Depression versank. Er war ein echter Proletensohn und hatte panische Angst vor dem Erfolg.

Kunst. Dopalet hat sich bestens der Welt angepasst, in der sie leben. Er bestellt ein Massaker und dann macht er eine Serie daraus. Vernon ist nicht wütend. Es ist so egal.

Social Media. Auf Wunsch macht sie einen Künstler, einen Gesetzesentwurf, einen Film oder eine Elektroband zur Schnecke. Ganz allein zieht sie in vier Tagen wie eine ganze Armee gegen den Feind zu Felde. Sie hat ihr Repertoire falscher Identitäten deutlich erweitert, und sie will ja nicht angeben, aber ihr Schwachsinn ist viral. In achtundvierzig Stunden verpestet sie das Netz. Soweit sie weiß, hat in Paris kein anderer diese Effizienz.
Danach läuft es von selbst – die Journalisten lesen Twitter und die Kommentare und fühlen sich verpflichtet, auf den Schwachsinn einzugehen, den sie dort finden … In der heutigen Kultur der Likes ist ihre Strategie extrem einträglich – es ist wie ein Goldrausch, niemand kapiert irgendwas, aber jeder will sein Nugget. Das ist der bescheuertste Job, den sie je gemacht hat. Aber er ist gut bezahlt, wenn man sich überlegt, wie gering der Aufwand ist. Sie hat ihre Auftraggeber bei den Eiern – wer genug Kohle hat, zahlt jeden Preis, um der Konkurrenz zu schaden.

Tage. Nichts unterscheidet einen Tag wie jeden anderen von einem Tag, an dem alles aus den Fugen gerät.

Berufswahl. Die Begegnung mit dem Koran verbot ihr ein Studium der Naturwissenschaften. Sie meidet auch die Literatur, die sie zu viel moralischem Unrat aussetzen würde, das Kino natürlich auch, denn da treiben sie es ohne Ende. Ihr blieb nur ein Sprachstudium – Grammatik hat für sie keine ethischen Probleme -, Wirtschaft oder Recht. Da sie pragmatischer ist, als sie selbst zugeben mag, hat sie sich für Steuerrecht entschieden; sie weiß, dass das Kapital heutzutage zum großen Ärger ihres Geburtslandes von Regierungen kommt, die sich nicht über ihr Kopftuch aufregen werden. Im Gegenteil.

Unglück. Sie erträgt es nicht, dass er so viel arbeitet, sie erträgt es nicht, dass er so wenig Ehrgeiz hat, sie erträgt es nicht, wenn er die ganze Zeit zu Hause ist, sie erträgt es nicht, dass er reist. … Man weiß nie, worüber sie sich beklagen wird, es ist unvorhersehbar. Auf jeden Fall ist sie nie glücklich mit ihm.

Vergangenheit. Man kann Fotos wegwerfen, Gegenstände zurücklassen, alte Kleidungsstücke verlieren – aber seine Leben von gestern mischen sich trotzdem in die Gegenwart, er spürt, wie seine Wurzeln ächzen, sie wollen sich nicht ausreißen lassen. Sie zittern, ineinander verwoben, dem Bewusstsein verborgen. Seine Vergangenheit wird zur Last Wenn er seine Situation Punkt für Punkt betrachtet, dann läuft alles. Er bekommt gute Honorare. Er wird gut aufgenommen, sieht was von der Welt … Aber er blutet aus toten Geschichten.

Wut. Sein Ausrasten bei jeder Kleinigkeit. Er brüllte, weil die Internetverbindung nicht funktionierte. Er schnaubte vor Wut, wenn sein Flug Verspätung hatte, konnte sich nicht mehr kontrollieren. Er kam sich wie die Nervenkranken im 19. Jahrhundert vor, denen man riet, im Bett zu bleiben und jede Tätigkeit zu vermeiden.

Alter. Wenn man über 40 ist, gleicht die ganze Welt einer bombardierten Stadt.

Sinn. Er hat allem einen Sinn gegeben, was in ihr zittert, ihre Seele zerreißt und keine Form findet … Sie wird irgendwo zuschlagen, im Dunklen … Sie lieben dasselbe und hassen dasselbe – die sogenannte Demokratie, die heuchlerischen Reden, die das Gehirn verkleistern, die Lügenpreisse, das Poltikergesindel, die schmutzigen Betrügereien, das kranke Frankreich, das unter der Rassenvermischung und dem Verfall der Sitten leidet. Das Fehlen des Glaubens, der Anständigkeit.

Integration. Keine Parallelgesellschaft! Aber es kommt immer der Moment, wo man seinen Vornamen schreiben muss – diesen Anti-Sesam-öffne-deich, mit dem die Wohnung besetzt, die ausgeschriebene Stelle vergeben, das Terminbuch des Zahnarztes zu voll ist. Sie sagen, integriert euch, und zu denen, die es versuchen, sagen sie, ihr seht doch, dass ihr nicht zu uns gehört.

Schönheit. Solange man noch jung ist, ahnt man nicht von der Grausamkeit dessen, was unweigerlich auf einen zukommt. Irgendwo weiß man es. Aber man begreift es nicht. Wie alle Mädchen hat Sylvie immer gedacht, dass ihre Schönheit eine Eigenschaft ist, die zu ihr gehört. Sie würde älter werden, aber schön bleiben. In ihrer Haut eingeschlossen zu sein, ist zur Tragödie geworden.

Ego. Dopalet hat sich ganz und gar seiner eigenen Person verschrieben … er redet nur von sich. Dabei ist sein Ego ziemlich wacklig – die geringste Kritik verletzt ihn, eine Schramme an seiner Reputation, und er rastet aus. Wenn er im Radio hört, dass ein Kollege gelobt wird, ist das für ihn sofort ein heimtückischer Versuch, ihn zu Sau zu machen.

Leichtigkeit. Sie identifizierte sich mit dem Komfort. Der Leichtigkeit. Eins kann man wohl sagen: Das Leben hat ihr nachdrücklich bewiesen, dass sie da gründlich falsch lag.