Verändert Pokemon Go Storytelling? Ein Gespräch mit dem Spiele-und Kommunikations-Experten Michael Trier, Director of PR & Social Media wildcard communications, zuvor Chefredakteur bei GameStar.

Pokemon Go revolutioniert gerade die Spielwelt. Ist das eine Frage der Technologie?

Revolutioniert? Finde ich nicht.

Vielleicht ist es eine Frage des Storytellings?

Weiß nicht, muss mal überlegen …

Darauf gibt es eine kurze und eine lange Antwort. Die kurze lautet: „Heimat, Timing, Lizenz, Teilbarkeit.“

In der Tat angenehm kurz. Jetzt interessiert mich doch die lange!

Die Technologie gab es so oder so ähnlich schon vorher, weithin erprobt mit der App Ingress, auch von den Pokemon Go-Machern Niantic. Ingress startete schon im Jahr 2013 auf Android, 2014 dann auf iOS. Das Spiel funktioniert technisch ganz ähnlich wie Pokemon Go: Auch hier werden auf Basis von Google Maps per GPS ermittelte Positionsdaten genutzt, um an bestimmten Geländepunkten Augmented Reality-Einblendungen mit dem Bild der Smartphone-Kamera zu mixen, also quasi Mixed Reality. Ziel des Spiels ist es, für eine von zwei Fraktionen über die Besetzung von per AR zugespielten Kontrollpunkten, möglichst viele Gebiete zu kontrollieren – und das weltweit.

Befeuert wurde das Ganze von einer Sci-fi-Weltverschwörungs-Alienenergie-Rahmenhandlung, die wiederum von im Netz verstreuten, fiktiven Medienschnipseln wie Artikeln auf Facebook und Youtube-Videos sowie einer Nachrichtensendung, dem wöchentlichen Ingress Report weiterentwickelt wurde.

Wow! DAS ist eine Story, oder? Mit wahnsinnig vielen Anknüpfungspunkten für Kooperationen, für Content Marketing, für Storytelling in jeder Richtung, jeder Dimension und jeder Größenordnung.

Heimat im Großen

Spannend. Ingress ist an mir vorbeigegangen. War wohl kein Erfolg?

Es gab zu Beginn des Spiels eine starke Kooperation mit Vodafone samt speziellem Datentarif, sämtliche Vodafone-Shops waren als Portale eingebunden, es gab exklusive Ingame Items für Vodafone-Kunden; die ganze Palette leuchtender Marketingfarben war hier virtuos eingearbeitet, ein digitales Gesamtkunstwerk. Später folgte die Axa und andere.

Heute ist Ingress aus marketingtechnischer Sicht zwar nicht tot, aber Nische. Zu kompliziert, zu abgedreht, über zu viele Plattformen und zu koordinierende (Massen-)Aktionen ausgerollt. Trotzdem und gerade deshalb nicht massentauglich. Für die wirkliche Masse.

Dann haben die jetzt dazugelernt!

Haben sie. Pokemon Go, das ist die technische Raffinesse von Ingress, angereichert um vier Faktoren:

  1. Die über Jahre von den Ingress-Usern gesammelten, fein granulierten Geodaten bis hin zu den hinzugefügten lokalen Sehenswürdigkeiten in jedem Dorf (“Heimat im Großen”)
  2. Die Faszination der Zukunftstechnik Augmented Realtiy zum richtigen Zeitpunkt (“Timing”, jeder hat heute ein Smartphone, AR läuft performant)
  3. Die  verbindende Kraft der weltweit bekannten Pokemons (bockstarke “Lizenz”, skalierbar auf jedes Kenntnislevel von Panini-Sammelheft bis hin zu Pokemon-Guru)
  4. Die plakative Präsenz des Virtuellen im Realen (“Teilbarkeit / Anschaulichkeit” in sozialen Medien, aber auch im Freundeskreis, bis hin zur Familie, so ein in der Pokemonapp kinderleicht mit einem Tastendruck zu erstellendes AR-Bild, rafft sogar Oma).

Und das alles funktioniert in der Praxis so einfach und intuitiv, dass es Fünfjährige beherrschen. Manchmal möchte man nur dabei stehen, zusehen und weinen, angesichts dieser Perfektion.

Turtok_in_Perlach

Alles so einfach und intuitiv, dass es Fünfjährige beherrschen

Verstehe. Aber für mich ist das, mehr noch als ich zu Beginn des Gesprächs glaubte, großartiges Storytelling. Es gibt eine Story und jeder will Teil davon sein. Das Ziel aller Geschichtenerzähler – ganz gleich ob auf dem Marktplatz in Marrakesch, vor einer Gesellschafterversammlung oder in einem Spiel. Nur ist die Story vollkommen offen und es wurden auch neue Dimensionen aufgefaltet. 

Hm, lass mich dir eine Geschichte erzählen. Eine wahre Geschichte vom letzten Wochenende:

Neulich war ich spät abends auf dem Dorfplatz in München Perlach. Ein gewöhnlicher Montag im Sommer, es ist 22:30 Uhr. Der Pfanzeltplatz ist voller Menschen, hauptsächlich jüngere Leute, 15jährige bis Mittdreißiger. Dazu einige verstreute 40er. Ja, und ich. Ich überschlage die Menge im Kopf, alle Bänke auf dem Platz und entlang des ganz altmodisch vor sich hingluckernden Hachinger Bachs sind voll besetzt.  So mancher hat sich Campingstühle mitgebracht, Kühltaschen stehen herum, ein Pizzamoped knattert heran. Joeys liefert überall. Ich komme so auf etwa 100 bis 120 Leute. Montagnachts. Auf einem Dorfplatz, der ansonsten maximal sonntagnachmittags einigermaßen belebt ist – die einzige Eisdiele weit und breit macht’s möglich.

“Alter, geil ey!” “Scheiße, es ist zu stark!”

Ich freue mich und denke: Das ist fast so, wie man es manchmal auf alten Fotos sieht, oder sich das Gemeinschaftsleben „früher” vorstellt. Vor allem, wenn man den Geschichten der Großeltern lauschte, wenn sie davon erzählten, wie es vor der Erfindung des Fernsehens war. Wie alle um den Weltempfänger herumsaßen oder jemand einfach nur erzählte. Oder sang, während die anderen in ihre Lektüre oder Handarbeit versunken waren.

Nun gut, ganz so ist es nicht. Die Menge ist in viele kleine Grüppchen aufgesplittert, die meisten Gestalten sind gebeugt, die Gesichter weiß gestrichen vom fahlen Licht der Smartphone-Displays. Doch das Ganze hat etwas sehr Freundliches, die Atmosphäre ist kommunikativ und friedlich, völlig Fremde sprechen miteinander. Das ist doch was.

Ich gehe oft abends nach der Arbeit über den meist ausgestorbenen Platz, heute ist alles anders. Plötzlich ein Schrei, ekstatisch, ohne Hemmung, leidenschaftlich: “Tuurtoook”! Alles springt auf, ein Fahrrad schlägt hart auf die Pflastersteine, irgendwo fällt eine Flasche um. “Wo, wo ist er?” “Hat es schon jemand?” “Alter, geil ey!” “Scheiße, es ist zu stark!”, schallt es durcheinander. Alles rennt auf eine Stelle auf dem Gehweg zu, eine Bushaltestelle wird belagert. Hundert Smartphones zielen auf – nichts. Anscheinend. Von dem seltenen Pokemon, das gerade an dieser Stelle gespawned ist, wissen nur die, die die App offen haben und auf der Jagd waren. Also ungefähr alle.

Unbeteiligte Zuschauer, ein älteres Paar auf dem Heimweg, ein verirrter Jogger, einige weitere Passanten fliehen, Verwirrung steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Was wohl ihre Geschichten heute Abend zuhause oder morgen früh bei der Arbeit sein werden?  Ich für meinen Teil habe Turtok gefangen. #dieweltwirdimmerverrückter