Alexander Görlach ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von The European und forscht aktuell am Center for European der Harvard University. Ein Interview mit dem promovierten Theologen und Linguisten. Die Themen: Journalismus, Storytelling, Werte und die großen Narrative.

Wie lautete die Story, mit der ihr 2009 The European gestartet habt. Hat sie sich verändert?

Wir hatten in der Tat eine Erzählung, eine Story. Ich denke, jedes Start-up braucht eine Story. Damals war es noch so, dass man auf den News-Seiten in Deutschland überall dieselben Überschriften und Fotos fand. Es gab keine Autorenbilder, keine Kommentar-Sektionen, keine Debatten. Der European wollte all das sein: ein Magazin, journalistisch geführt, das aus verschiedenen gesellschaftlichen Richtungen die Menschen zusammenführt und debattieren lässt. Ich glaube, das ist uns gelungen. An dieser Story hat sich nichts geändert. Wir sind froh, dass viele News-Seiten mittlerweile auch Debatten zulassen und eine gewisse Offenheit zeigen.

Welche Rolle spielt Storytelling für dich nach innen? Welche Erzählung hält dieses offene System The European zusammen?

Wir hatten über 3000 Autoren in den vergangenen sechs Jahren. Und, nehmen wir mal den politischen Bereich als Beispiel, von Sahra Wagenknecht bis Erika Steinbach auch alle relevanten Autoren im Magazin. Ich glaube, das funktioniert nur da, wo sich alle gleichberechtigt behandelt fühlen. Und das war uns immer sehr wichtig. Was wir gar nicht als Story erzählt haben, aber gelebt: Wir waren das erste Magazin für Millennials in Deutschland. Weil wir in der Redaktion nicht nach rechts, links, grün, schwarz oder rot diskutiert haben, sondern die Sachfragen angegangen sind. Es hat uns wenig interessiert, eine politisch kohärente Geschichte zu erzählen.

Du sprichst in Bezug auf den Journalismus, den The European prägt, von Deutung. Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa hat eine Metapher zur Deutung der Gesellschaft und des Menschen vorgeschlagen, er spricht von Resonanz. Inwieweit prägt Resonanz euren Journalismus?

Das ist natürlich sehr hochtrabend in Bezug auf ein journalistisches Produkt. Am Ende des Tages muss man versuchen, mit beiden Füßen auf dem Boden stehen zu bleiben. Journalismus findet in der Welt statt und nicht über sie hinaus. Wie Karl Marx sagt: „Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen.“ Ich kann mit Resonanz dahingehend etwas anfangen: Guter Content und gute Debattenbeiträge finden natürlich ihren Weg und erreichen somit auch Resonanz.

Journalismus ist der erste Draft der Geschichte

Was ist die zentrale Rolle des Journalismus in unserer Zeit?

Es geht – und das ist das Mehrwert, den Journalisten im Zeitalter von Algorithmen noch stiften können – um das Big Picture.

Zum Beispiel um die großen Narrative?

Auch. Ein Narrativ ist ein Kontinuum, er reduziert Komplexität und spitzt gleichzeitig zu. Die Erfahrungen, Erinnerungen, Learnings wie man heute auch sagt, einer Gesellschaft kondensiert er. Zum Beispiel der europäische Narrativ: der eine Teil davon besteht aus dem „Nie wieder“. Es ist der Gründungsnarrativ nach Zwei verheerenden Weltkriegen und der Shoa. Der zweite Teil des europäischen Narrativs ist der der Solidarität, der sozialen Gerechtigkeit. Der erste Teil scheint für die neue Generation keine entscheidende Bedeutung mehr zu haben. Leider. Der zweite steht angesichts hoher Jugendarbeitslosigkeit im Süden der Union auf der Kippe.

Wenn Narrative keinen Sitz im Leben mehr haben, werden sie schal und stiften keine Identität mehr. Die großen mythologischen Erzählungen und religiösen Überlieferungen repräsentieren die wirkmächtigsten Narrative. Sie sind die größten Identitätsstifter. Aber: Herakles, der antike Held, ist heute kein Rollenmodell mehr und Religionen, das wissen wir, sind in der Geschichte immer dann untergegangen, wenn sie ihren Narrativ nicht behutsam mit der sich wandelnden Welt verändert haben. Journalismus, das ist ein Zitat, dessen Urheber mir gerade entfallen ist, ist der erste Draft der Geschichte. Unsere journalistische Arbeit überprüft alte Narrative auf ihre fortwährende Stichhaltig- und Gültigkeit. Und wir heben neue Narrative aus der Taufe.

Werte sind nie etwas Absolutes, für immer Gültiges

Du sprichst häufig von Werten. Welche Chancen siehst du beim Thema Werte? 

Ich weiß gar nicht, ob ich häufig von Werten spreche. Ich persönlich bin kein Moralapostel. Aber ich glaube, dass wir ohne Werte nicht bestehen können. Wichtig für mich ist: Werte sind nie etwas Absolutes, für immer Gültiges, sondern haben natürlich immer einen historischen Kontext. Es gab einen sehr guten Beitrag zur Leitkultur, als die Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Autor war Peter Tauber, der CDU-Generalsekretär. Unsere Leitkultur, sagt er, sah vor 50 oder 60 Jahren so aus, dass Frauen keinen Führerschein machen durften und den Mann fragen mussten, ob sie einen Job haben durften. Und Homosexuelle sind in den Knast gewandert. Auch der größte Konservative muss anerkennen, dass unsere Werte nicht immer fest wie die Zehn Gebote auf Steintafeln zu uns herabgesandt wurden.

Darin liegt auch die Gefahr, oder?

In der Tat. Es ist diese ahistorische Form zu argumentieren, von einer Sache zu behaupten, dass sie angeblich immer schon so war. Das machen die islamistischen Terroristen genauso wie christlichen Fundamentalisten: zu behaupten, dass ein Zustand der Welt ein von Gott favorisierter sei, der irgendwann auch einmal schon so gewesen ist. Das ist eigentlich auch ein Narrativ. Und wenn wir denn von Werten sprechen. Da muss man sagen: Das stimmt so nicht. Werte entwickeln sich. Nach vorne. Zur Seite. Und manchmal leider auch zurück.

Journalismus zeichnet das Big Picture

Du forscht aktuell in Harvard. Welcher Narrativ fällt dir in den USA besonders auf? 

Es ist nach wie vor so: Wenn man eine Idee hat, einen Traum, von etwas begeistert ist, kann man damit nach vorne preschen und etwas werden. Dieser Teil der amerikanischen Erzählung ist nach wie vor gültig. Und das unterscheidet ihn auch von dem skeptischen und halb betrübten deutschen Bedenkenträger.

Hast du eigentlich so etwas wie eine Lieblingsstory, eine, die den Menschen Alexander Görlach erklärt?

Nietzsche sagt, wir Erkennenden bleiben uns selber fremd, wir können uns selber nicht erklären. Ich würde Nietzsche in dieser Absolutheit nicht zustimmen, aber von der Tendenz. Das ist ja sehr interessant, die Frage nach Identität: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was meine Person angeht: Es gibt nicht die eine Story, die ich erzählen kann. Es gibt verschiedene Facetten. Wie wahrscheinlich in jedem Leben. Und ich hoffe, dass mein Leben, das in den letzten 39 Jahren sehr spannend war, so bleiben wird.