Glatt ist unglaubwürdig: Petra Sammer hat zwei erfolgreiche Bücher über Storytelling und Visual Storytelling in Marketing und PR geschrieben und ist Chief Creative Officer von Ketchum Pleon. Im Münchner Sitz der Agentur traf ich die Storytelling-Expertin zum Interview. Geschichte reihte sich an Geschichte. Fakt an Fakt. Erkenntnis an Erkenntnis. Mein bislang längstes Interview zum Thema Storytelling, zwangsbeendet wegen einer abgelaufenen Parkuhr und einem dringenden Call.

Wie lange nutzt du schon Storytelling in der Agentur?

Ketchum Pleon ist eine internationale Agentur. Storytelling kenne ich von unseren amerikanischen Kollegen seit zehn Jahren. Angekommen im deutschen Markt ist die Methodik seit fünf Jahren. Mittlerweile sehe ich viele großartige Storys im Marketing. Seit zwei Jahren ist ein Boom auch im Doing zu sehen. Jetzt kommt es gerade in der internen Kommunikation an.

Erfolgsfaktor Storytelling: Gibt es so etwas wie eine Formel, die jeder anwenden kann?

Die gibt es. Vielleicht sollten wir noch einen Schritt zurückgehen und einmal definieren, was Storytelling ist.

Gern.

Mir helfen vier verschiedene Kategorien, wenn ich Storytelling beschreibe:

  1. Storytelling als rhetorische Technik. Storys werden als kleine Anekdoten verstanden. Da gelten eigene Regeln: Eine Story muss kurz sein, sie muss wahr sein und sie soll positiv enden, motivieren.
  2. Storytelling im Journalismus. Da spielt vor allem der Nachrichtenwert eine Rolle.
  3. Storytelling für die Historie eines Unternehmens oder einer Marke. Das hat viel zu tun mit Visionen, Gründermythen, Werten, Leitsätzen. Wieder ganz eigene Regeln.
  4. Storytelling im Marketing, inspiriert von Drehbuch- und Romanautoren. Warum wir gerade so viel über Storytelling im Marketing und der Unternehmenskommunikation reden, hat viel mit der vierten und letzten Kategorie zu tun Wie kann es sein, fragt man sich, dass diese JK Rowling Menschen dazu bringt, in Büchern zu versinken? Da muss doch was drin sein, was wir auch verwenden können.

Was hast du bei der Harry-Potter-Erfinderin gefunden?

Da gibt es fünf Erfolgsfaktoren:

  1.  Jede gute Geschichte braucht einen Grund, erzählt zu werden. Was will die Marke oder das Unternehmen eigentlich transportieren? Wie lautet das Why des Unternehmens?
  2. Was gute Geschichten noch brauchen, ist ein Held, oder sagen wir neutraler: eine Hauptfigur. Jemand, mit dem sich das Publikum identifiziert. Es ist einer und nicht: die Zielgruppe. Wir werden dauernd konfrontiert mit Gruppen. So richtet man im Unternehmen ja seine Kommunikation aus. Storytelling greift aber eine Person heraus.
  3. Das Dritte: „Stories com from the dark side“, sagt Meisterstoryteller Robert McKee. Sie beginnen mit einem Konflikt. Das ist komplett gegen Marketing oder PR. Als Agentur werden wir engagiert, um Lösungen zu finden. Wenn du aber ins Kino gehst, dann schaust du dir 100 Minuten Krise an.
  4. Viertens: Storytelling ist emotional. Nach wie vor sind PR und Marketing sehr rational. Wir listen Produktvorteile auf. Aber Storytelling will rühren, bewegen.
  5. Die letzte Grundregel: Jede gute Geschichte ist viral. Viralität ist keine Erfindung des Internets. Hänsel und Gretel wird seit Hunderten Jahren weiter erzählt. Daran erkennt man eine gute Geschichte.

Ich hätte es etwas Wissenschaftlicher erwartet 😉

Aber gern. Es gibt ein Experiment des Neuroökonomen Paul Zak. Probanden hören die Geschichte vom kleinen Ben. Zuvor wird ihnen Blut abgenommen. Dann erfahren sie: Der Papa spielt mit Ben, weil er an Leukämie erkrankt ist und bald sterben wird. Nach dem Ende der Geschichte wird noch einmal Blut abgenommen. Die Testpersonen werden gefragt, was sie denn gefühlt hätten bei der Geschichte. Sie können das nicht so richtig ausdrücken.

Visual Storytelling: Wir verarbeiten Bilder 60.000 Mal schneller als Text

Doch das Blut spricht eine klare Sprache.

Genau. Zwei Hormone sind angestiegen: Cortisol, ein Stresshormon. Und Oxytocin, das Kuschelhormon. Dieses Kuschelhormon wird ausgeschüttet, wenn Empathie im Spiel ist. Oxytocin löst Vertrauen aus. Wenn man in einem Verkaufsgespräch jemandem ein Fläschchen mit Oxytocin unter die Nase reibt, dann glaubt der Käufer dem Verkäufer eher. Leider kann man es nicht künstlich herstellen. Also erzählen wir Geschichten.

Du hast ein Buch über Visual Storytelling geschrieben: Welche Rolle spielen Worte, Bilder, Videos?

63 Prozent des Inhalts in Social Media ist mittlerweile Foto und Video. Insgesamt wird Kommunikation visueller. „Visual Turn“, sagen die Wissenschaftler.

Warum kommen Bilder so gut an?

Angeblich verarbeiten wir sie 60.000 Mal schneller als Text. Text ist kompliziert. Video und Film aber haben eine Sogwirkung. Sie transportieren außerdem sofort Emotion. Beide Gehirnhälften werden aktiviert. Text kann das im Roman. Kino im Kopf. Fact Sheets sprechen dagegen nur linke Gehirnhälfte an. Das Hirn hat aber gern auch etwas für die andere Seiten. Ich will was Fühlen und ich will schnell sein! Ich mag eine Geschichte, weil beide Gehirnhälften tätig sind. Ein Video zu schauen ist doch viel bequemer als zu lesen.

Alle starken Bilder lösen in irgendeiner Weise Emotion aus

Hat sich das verändert in digitalen Welt?

Es gab eine Eskalation mit den neuen Medien. Die haben den Hunger nach Geschichten in Text und Bild geweckt. Visual Storytelling boomt. Auf der anderen Seite die sinkende Aufmerksamkeitsspanne von Menschen. Warum setzt denn Netflix nur auf 30-45-Minuten-Formate? Ich begleite einen Studiengang in der Schweiz. Die wollen ins Filmgeschäft einsteigen. Und denen haben wir eine Liste von Filmen gegeben, die sie anschauen sollten. Das sind Filme dabei wie Spiel mir das Lied vom Tod, die dauern über drei Stunden. Aber auch Rocky, der dauert nur 90 Minuten. Selbst da sagen die: 90 Minuten – Gott ist das lang! Es hat ja einen Grund, warum alle auf diese Serienformate setzen: Die Leute können sich nicht mehr so lange konzentrieren. Microsoft geht von einer Aufmerksamkeitsspanne von acht Sekunden aus.

Wofür?

Um im Netz etwas zu erfassen. Ein Goldfisch hat die Aufmerksamkeitsspanne von neun Sekunden.

Ach.

Es stand sogar in der Times 😉

Welche Wort-Bild-Ratio schlägst du für die Unternehmenskommunikation vor?

Mindestens 50 Prozent Bildanteil, wenn nicht noch mehr. Das ist die Zukunft.

Was sind das denn für Bilder?

Andere, als die, die bisher verwendet wurden. Foto galt lange als Ergänzung, Dekoration. Wir reden über Partnerschaft und wir zeigen ein Bild von zwei Menschen, die sich gegenüberstehen und Hände schütteln. Das Bild ist überflüssig. Ist nur ein netter Farbklecks. Visual Storytelling heißt: Bilder nutzen, die eine Geschichte erzählen.

Foto galt lange Zeit nur als Dekoration

Gibt es auch hier eine Erfolgsformel?

Aber ja. Es ist exakt die Erfolgsformel für Storytelling, die ich dir eben erzählt habe. Es braucht einen Grund, warum die Story erzählt wird, einen Helden, einen Konflikt, Emotionen und Viralität. Ein Beispiel, das alle im Kopf haben: Red Bull mit Strato. Dieser Sprung aus dem Weltall. Der Mentor von Felix Baumgärtner twitterte dieses Bild mit dem Satz „Camera is on“. Red Bull verleiht Flügel – aus 36 km Höhe ein Sprung. Mehr Flügel geht ja wohl nicht? Da ist der Held, der  Hauptdarsteller. Da ist der Konflikt. Im Bild ist das vielleicht eher ein Kontrast. Hell versus dunkel.

Ein anderes Beispiel: 50 Jahre Barby. Ein total hässliches Bild, Pink beisst sich mit der Deutschlandfahne. Aber es hat funktioniert. Botschaft: Jedes Mädchen kann werden, was es will. Sogar Kanzlerin von Deutschland. Alle starken Bilder lösen in irgendeiner Weise Emotion aus. Du guckst und denkst, was ist das denn? Und diese Bilder haben alle eine virale Kraft. Sie werden geliked und geshared. Wie der Sprung aus dem All oder die Kanzlerinnen-Barby.

Was ist unbedingt zu vermeiden?

Klischees in Bild und Text. Ergebnis trifft auf Erwartbares. Wie in Case Studies. Da ist also dieses Problem und dann kamen wir rein und haben es, schnipp, gelöst. Das ist zwar ein schönes Beispiel und ganz nett für den Vertrieb, aber viel spannender wäre es, wenn man da einsteigt und die Schwierigkeiten erzählt, die sie hatten. Das braucht Mut, die Ecken und Kanten zu erzählen. Glatt ist unglaubwürdig. Man muss manchmal kleine Schwächen eingestehen, um authentischer zu wirken. Oft wollen Unternehmen zu glatte Geschichten.

Die Trennung von Storytelling und Visual Storytelling löst sich auf

Wie offen sind Unternehmen für Visual Storytelling?

Alle haben begriffen: Wir brauchen mehr Storytelling und mehr Bilder in der Kommunikation.

Gibt es einen Trend im Visual Storytelling?

Virtual Reality. Augmented Reality. Ich bin Teil der Geschichte, mittendrin. Da wird mehr passieren. Die Trennung von Storytelling und Visual Storytelling löst sich auf. Alles wird eins.  Geschichten werden auch offener erzählt werden: die Endlose Story, die man ja auch aus dem Gaming kennt. Keiner will, dass die Geschichte endet, jeder will das nächste Level. Das ist ein anderes Verständnis von Story.

Welche Rolle spielt (Visual) Storytelling in Deinem Leben außerhalb der Agentur?

Es spielt eine große Rolle. Ich erzähle gern Geschichten. Letztes Jahr habe mir eine Auszeit gegönnt. Bin nicht in die Welt gefahren. Stattdessen jede Woche in ein anderes Stadteil von München. Es gibt 43 offizielle Stadtteile. In jedem Stadtteil habe ich Bilder geschossen und dazu etwas erzählt. Daraus ist ein schöner Tumblr Blog geworden. Ich habe dann noch einen Notizblock mit den Bildern gemacht und ihn für die Obdachlosenhilfe München verkauft. Das war für mich ein sehr schönes Projekt.